Am Vorabend des 30.9. dieses Jahres sprach ich – nach der Montagsdemo – drei Polizisten in der Stuttgarter Bahnhofshalle an. „Sind Sie morgen auch noch da?“ Stirnrunzeln ihrerseits. „Morgen? Was ist morgen?“ - „Der 30.9., Gedenktag zum Schwarzen Donnerstag.“ Bei dem dann folgenden kurzen (Aufklärungs)Gespräch stellte sich heraus, dass die drei Uniformträger aus Bayern weder mit dem Datum 30.9. noch mit dem Inhalt des Tages etwas anfangen konnten. Echt oder gespielt? Diese Szene erinnerte mich stark an den Tag vor vier Jahren, als von nah und fern Polizisten nach Stuttgart gekarrt worden waren, die weder ihren Auftrag klar formulieren konnten noch eine Ortskenntnis von Stadt und Park hatten.
Gedenktage sind eine Herausforderung an die Psyche des Menschen. Gedenktage rufen schmerzliche Erinnerungen wach, sie können traurig, zornig und wütend machen oder auch frustrieren. Jeder, der die Ereignisse am 30.9.2010 im Park miterlebt hat, erzählt seine ganz besondere Geschichte. Dieser Tag hat die Bewegung geprägt. Auch nach vier Jahren kann jeder, der damals im Park war, die entscheidenden Stunden mit einer erstaunlichen Präzision wiedergeben. „Wir vergessen nicht und nichts.“
Der Wasserwerferprozess in diesen Wochen trägt dazu bei, die Ereignisse immer wieder nachzuerleben. Die Machtstrukturen im Hintergrund - aber auch ganz real die selbst erlebten und tausendfach auf Fotos und Videos dokumentierten - werden analysiert. Durch die Aussagen der Zeugen - auch Nicht-Aussagen vermitteln eine Botschaft - wird vor allem die Seite der Polizei (etwas) durchsichtiger. Man würde gern unter dem Adler an der Wand des Gerichtssaales das Zitat von Ingeborg Bachmann lesen: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“
Das „Finden der Wahrheit“ in Prozessen und Untersuchungsausschüssen ist so langwierig und mühsam, mit so viel Vertuschung, Aussageverweigerung und falschen Fährten verbunden, dass auch das wieder ein Lehrstück für die Beobachter ist. Nicht nur der 30.9.2010 war ein Drama, auch die (Nicht)Aufarbeitung ist ein Drama. Beide Teile gehören zusammen, untrennbar. So schmerzlich es ist, so ist es doch wichtig, sich dem Rückblick und der Aufarbeitung immer wieder zu stellen; weil man in „Tathergang und juristischer Aufarbeitung“ unendlich viel lernen kann über Machtpositionen von Politik, Polizei und Justiz.
Der Gedenktag des 30.9., der vierte Jahrestag des Schwarzen Donnerstag, wurde dieses Jahr als kreativer Aktionstag begangen. Verschiedene Gruppen hatten Protestaktionen geplant, das Programm stand unter dem Titel „Der 30.9. mahnt! Wir holen unsere Stadt zurück!“ Die Stadt zurück holen sollte heißen, die Proteste an den Ort des Geschehens (so nah wie möglich am Grundwassermanagement, GWM), aber auch unmittelbar in die Stadt hinein zu tragen; also die Königstraße, den Marktplatz und das Rathaus mit einzubeziehen.
Um 6:30 begann der Gedenktag mit einer Kundgebung und Demonstration inform einer Baustellenblockade an beiden Zufahrten an der Straße am Schlossgarten. Denn der 30.9.2010 hatte mit einer Demonstration durch die Jugendoffensive und einer Blockade durch bis zu 1000 Bürger im Mittleren Schlossgarten begonnen. So sollte auch am 30.9.2014 der Tag mit einer Blockade beginnen, als starkes Symbol für eine inzwischen als erfolgreich anzusehende Blockade vor vier Jahren. Damals hatte eigentlich der ganze Park schon abgeholzt werden sollen, was aber aufgrund des entschlossenen Widerstands der Demonstranten nicht möglich gewesen war. So war nur ein vergleichsweise kleiner Teil von der Polizei „erobert“ worden. Ein Symbol war die diesjährige Blockade aber auch für die vielen Blockaden vor dem Bautor am GWM im Jahre 2011. Die Entschlossenheit und das Durchhaltevermögen der Demonstranten am GWM – welches auf dem von der Polizei eroberten Areal nach dem 30.9. dann errichtet wurde - sollte gerade am Jahrestag des Schwarzen Donnerstag in Erinnerung geholt werden.
So trafen sich am 30.9. dieses Jahres Protestierende mit ihren Bannern an der Baustelleneinfahrt Schillerstraße/Ecke Straße am Schlossgarten und an der rückwärtigen Seite an der Baustelleneinfahrt Wolframstraße. Aufgrund der Blockade konnten zwischen 6:30 und 10:00 weder Lastwagen noch andere Fahrzeuge die Baustelle bedienen.
Eigentlich hätte dem Projektträger klar sein müssen, dass der 30.9. ein ganz besonders sensibler Tag für die Stadt und die Parkschützerbewegung sein würde. So waren die Demonstranten doch einigermaßen überrascht, dass der Baustellenbetrieb nach dem Motto „business as usual“ ablaufen sollte. Zugegeben, man merkte, dass die Polizei an diesem Morgen nicht auf Konfrontation aus war. So wurde die Versammlung tatsächlich gleich als Versammlung anerkannt, doch nach der verbalen Auflösung gab es keine Einheit, die sich um die vor dem Tor stehen gebliebenen Demonstranten kümmerte. Alle LKWs und PKWs, die in diesem Zeitraum anfuhren und eine zeitlang vor den Blockierenden standen, drehten nach geraumer Zeit um und fuhren fort. „Es gibt einen Notfall, auf der Baustelle ist ein Rohrbruch, die Handwerker müssen rein,“ erklärte zwischendurch der Einsatzleiter der Polizei. „Wir blockieren Baufahrzeuge, keine Menschen“, war der Konsens der Demonstranten vor dem Tor. Und so stellten die Handwerker ihr Fahrzeug vor dem Tor ab und betraten das Baugelände zu Fuß mit ihren Werkzeugkästen.
Bemerkenswert war ein LKW mit Münchener Kennzeichen, dessen Fahrer beim Erreichen der blockierten Zufahrt infernalisch und ohne Ende hupte. Meinte er, dadurch die Protestierenden zur Seite scheuchen zu können? Auch er – wie schon die drei bayerischen Polizisten am Vorabend – konnte mit dem Hinweis auf 30.9. nichts anfangen. Später drehte er bei und fuhr fort.
Mit Transparenten, Bannern und einer Rede wiesen die Demonstranten auf die Bedeutung des 30.9. hin, sie forderten einen Baustopp angesichts einer „illegalen Baustelle“. Als gegen 10:00 die Demonstranten das Ende der Blockade beschlossen, wurde der Baustellenverkehr aufgenommen.
Um 10:00 Uhr begann an der Mahnwache Ecke Königstraße die Aktion der „Mönche“. Neun in schwarze Kutten gekleidete Mönche trugen einen riesigen, schweren Gong zwischen sich und zogen in einem Schweigemarsch langsam und würdevoll über die Königstraße. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen und erhoben ihre anklagenden Stimmen, unterbrochen durch dumpfe Gongschläge: „30. September 2010. Ein tausendfacher Aufschrei. Bis heute ungesühnt, ungesühnt, ungesühnt. 30. September 2010. Die Arroganz der Macht schlägt zu und peinigt Gottes Schöpfung, Gottes Schöpfung, Gottes Schöpfung.“ Diese Aktion gehörte dem Erschrecken und der Traumatisierung vieler Menschen am 30.9.2010.
Mahnen und anklagen – so stand es auf dem Flyer. Die Mönche verstörten durch ihren Schweigemarsch, durch ihre Aussagen und durch ihr würdevolles Auftreten. Sie ließen die Menschen auf der Königstraße in ihren schnellen Schritten verharren, still stehen. Die Shoppingmeile bekam an den Plätzen, wo die Mönchsgruppe mit ihrem Riesengong und ihren eindringlichen Worten zugegen war, eine besondere Aura. Innehalten, für Minuten, nachdenken, was war am 30.9.geschehen? Am 30.9. vor vier Jahren hatte Shopping und Flanieren auf der Königstraße parallel zum unmenschlichen Geschehen im Park statt gefunden. Nur schwach waren damals Pfiffe und Rufe, Durchsagen der Polizei und das Schreien der Menschen bis auf die Konsummeile gedrungen. Dank der Mönche wurde vier Jahre später die Bedeutung des 30.9. direkt zu den Menschen auf der Königstraße gebracht.
Nahe der Mahnwache war ein Infopunkt aufgebaut worden, wo riesige folierte Fotos vom 30.9. an einer Leine hingen. Von hier startete um 13:30 eine Gruppe von „Sträflingen“ einen Demozug durch die Stadt. Es waren S21-Gegner in Sträflingskleidung, die sich mit dem Thema Justiz seit Jahren befassen. Die erleben, dass Handlungen, die eigentlich durch das Grundgesetz legitimiert werden sollten - so z. B. durch Art. 5 Meinungsfreiheit oder Art. 8 Demonstrationsfreiheit - in dieser Stadt mit ihrem ganz „besonderen“ juristischen Verständnis oftmals einer sehr eigenwilligen und nicht nachvollziehbaren Bewertung unterliegen. Viele von ihnen fühlen sich kriminalisiert, da sie „auf der Grundlage des Grundgesetzes gegen das Bauprojekt S21 protestieren und demonstrieren wollen“, sich aber nicht selten in einem Ermittlungsverfahren und vor Gericht wiederfinden.
Der Demozug der Sträflinge ging durch die Königstraße und zum Rathaus. Unterwegs wurde mit Passanten gesprochen, die angesichts der ungewöhnlichen Kleidung der Demonstranten und des mitgeführten Banners „Wir lassen uns nicht kriminalisieren“ ratlos stehen geblieben waren.
Ab 16:00 versammelten sich Aktivisten rund um die Innenstadtplätze Charlottenplatz, Gebhard-Müller-Platz und Friedrichstraße/Schillerstraße mit Bannern und machten die Autofahrer auf Probleme rund um S21 aufmerksam. Nicht wenige hupten zustimmend. Um 17:00 kam es zu einer Spontandemo, ausgehend vom Gebhard-Müller-Platz, als die dortigen Banner auf der Schillerstraße in Richtung Bahnhof getragen wurden. Angesichts der Bedeutung des 30.9. war es nur zu verständlich, dass eine Spontandemo an die Schrecken des Schwarzen Donnerstag erinnern wollte. Und das nicht in einer Nebenstraße ohne Publikum, sondern möglichst nahe der Stelle, wo vor vier Jahren das Elend dieser Stadt und des Parks begonnen hatte.
Als die Demonstranten schließlich vor dem Südausgang des Bahnhofs ankamen, hatten sich hier schon mehrere Hundert weitere Teilnehmer eines von der Jugendoffensive ab 18:00 organisierten Demozuges versammelt. Dieser führte dann auf der Schillerstraße, der Theodor-Heuss-Straße und durch das Kernerviertel bis in den Schlossgarten, mit Zwischenstopps auf dem Gebhard-Müller-Platz, dem Kernerplatz und am Neckartor. Die Stuttgarter Polizei – das konnte man merken – respektierte, dass der 30.9. ein spezieller Tag ist für die K21-Bewegung. Die Einsatzkräfte zeigten zunächst wenig Präsenz, schritten dann aber doch gegen Maßnahmen der Verkehrsberuhigung ein. „Nicht schubsen,“ hörte ich einen Einsatzleiter seinen Leuten mit auf den Weg geben.
Im Park hatte die Jugendoffensive eine Bühne aufgebaut, deren riesiges Plakat mit „Der 30.9. mahnt gegen Polizeigewalt“ direkt zum Thema des Gedenktages führte. In den folgenden Redebeiträgen ging es dann um Teilaspekte von Herrschaft (Polizei, Justiz, Politik, Wirtschaft). Es wurden juristische Bewertungen zum Wasserwerferprozess wiedergegeben, ein Bogen zu Blockupy und zu den Repressionen im Susa-Tal geschlagen und die K21-Bewegung analysiert. Ein Beispiel: Eindrucksvoll schilderte der Redner, dass die Bewegung das Projekt S21 als undemokratisch und unnötiges Milliardengrab bezeichnet und deshalb dem Projekt die Legitimation abspricht. Der Redner stellte jedoch klar, dass gerade diese Milliarden gewollt sind, da sie zeigen sollen, wie innovations- und investitionsfreundlich Stuttgart sei und dass es damit auf dem internationalen Parkett der global player mitspielen kann. Die Kosten seien also kein Hindernis, sondern - je mehr, desto besser – ein Beweis für Investitionsfreudigkeit und den Willen, zu den Gewinnern zu gehörten. „S21 soll ja gar nicht billig sein, sondern zeigen, was Stuttgart alles leisten kann.“
Mit dieser letzten Rede waren Veranstalter und Zuhörer schon wieder mitten im politischen Alltag, in der Gegenwart, am Diskutieren und Argumentieren. Der vierte Jahrestag des 30.9. war also ein Tag des Erinnerns an Polizeigewalt und massenhaften Widerstand im Park, ein Tag des Gedenkens an die Menschen, für die der 30.9.2010 ein Wendepunkt in ihrem Leben war, da sie schwer verletzt und traumatisiert wurden. Es war aber auch ein Tag, an dem viele erst politisiert wurden. Der Aufwachprozess hatte begonnen, er hält an. Der 30.9.2014 bestätigte die Bewegung, weiterhin sehr wachsam und sehr kritisch – auch den eigenen Denkmustern gegenüber - auf dem Weg des Widerstandes weiter zu gehen.
(Petra Brixel)
Hallole
Da ich an dem Tag nicht dabei war, danke ich der Petra für Ihren genauen
Abriß der Aktivitäten von 30.9.Da waren
wirklich kreative Aktionen.Zumal die Printmedien nichts darüber schrieben.Eine
Schande !!!
Ein großes Dankeschön und herzl, Grüße
Gerd Jungmann
Danke dir, liebe Petra. Der Artikel ist so unglaublich gut. Sachlcih beschreibst du die Aktionen. Sachlich beschreibst du den Tag, angefangen mit der Blockade… und siehe da… es war möglich seitens der Polizei, mit den Protestierenden anders umzugehen, als in den vergangenen Jahren.
Hat die Polizei dazu gelernt? Respektiert sie uns eher als früher?
Und immer wieder dein Hinweis darauf, dass die Aufarbeitung des 30.09.2010 so mangelhaft stattfindet. Der 30.09. ist für uns erlebte Geschichte. Und wer seine Geschichte nicht kennt, kann nicht in die Zukunft schauen.
Wie können die Verantwortlichen das verantworten…?
Liebe Petra, danke für deine klaren Worte, die ich mir im Stern, der Stuttgarter Zeitung oder anderen großen Print-Medien ebenfalls gedruckt zu sehen wünschte.
Barbara
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