Rede von Ursel Beck, Blockadegruppe und Cannstatter gegen S21, auf der 230. Montagsdemo am 21.7.2014
Mietenexplosion und Mietervertreibung im Nordbahnhofviertel
Liebe Mitkämpferinnen und Mitkämpfer,
Stuttgart 21 ist ein Immobilienspekulationsprojekt. Weil durch Bebauung auf den hundert Hektar des heutigen Gleisvorfeldes Kapital verwertet werden soll, sollen die Gleise weg. Und deshalb soll der Bahnhof unter die Erde.
Als Winfried Hermann noch kein Verkehrsminister war, hat er in einer Rede berichtet, wie ihm der frühere Bahnchef Heinz Dürr vorgeschwärmt hatte, dass ihm bei einem Hubschrauberflug über das Gleisfeld hinterm Hauptbahnhof ein Licht aufgegangen sei. Dürr soll Folgendes gesagt haben: „Dann ist mir klar geworden: Das sind Filetstücke, mitten in der Stadt! Wenn wir den Bahnhof unterirdisch machen, wie in New York, dann verkaufen wir das Gelände zu besten Preisen, den Quadratmeter zu 10.000 Mark oder mehr.“
Bei der Schlichtung wurden Quadratmeterpreise von 3.000 Euro für das geplante Rosensteinviertel genannt. Da kann uns doch niemand einreden, dass hier für Normalverdiener und junge Familien bezahlbarer Wohnraum entstehen könnte. Und es ist schon ein Hammer, dass OB Kuhn im Herbst eine Bürgerbeteiligung zur Bebauung des Rosensteinviertels organisieren will, bei der genau dieser Schwindel von bezahlbaren Wohnungen durch das geplante Rosensteinviertel die Grundlage sein soll.
Wir brauchen das Gleisvorfeld nicht, um ausreichend und für alle bezahlbare Wohnungen zu schaffen. Wir haben in dieser Stadt 11.000 Wohnungen und über 450.000 Quadratmeter Gewerbeflächen, die leer stehen. Anstatt Hauseigentümer für S21 zu enteignen, sollten Immobilienspekulanten enteignet werden, damit spekulativer Leerstand für Wohn- und andere gesellschaftlich sinnvolle Zwecke genutzt werden kann. Die Enteignung von Immobilienspekulanten wäre tatsächlich eine Enteignung im öffentlichen Interesse.
Im Nordbahnhof und anderswo gibt es noch bezahlbaren Wohnraum. Aber er wird immer weniger. Durch Mietenexplosion und Abriss werden preisgünstige Altbauwohnungen systematisch vom Markt geräumt. In Sanierungsgebieten übernimmt die Stadt sogar die Kosten für den Abriss von Altbauwohnungen zugunsten von teuren Neubauten. Diese Veruntreuung unserer Steuergelder muss gestoppt werden!
Stuttgart 21 wirkt bei der Vernichtung von günstigem Wohnraum als Katalysator. Das Viertel hier ist dafür ein Paradebeispiel. Die Immobilienhaie wittern fette Beute, denn das Nordbahnhofviertel wird zu einem Filetstück, weil es durch Stuttgart 21 näher an die Innenstadt rücken und an das geplante Rosensteinviertel angrenzen würde.
Im Nordbahnhofviertel gibt es 900 ehemalige Eisenbahnerwohnungen. Das sind z.B. die majestätischen Backsteinhäuser, die Sie in der Nordbahnhofstraße sehen. Nach inoffiziellen Angaben wurden die Wohnungen der Eisenbahnsiedlungsgesellschaft im Rahmen der Bahnprivatisierung im Jahr 2001 für durchschnittlich 50.000 Euro privatisiert. Im Jahr 2012 hat die LBBW die Wohnungen für durchschnittlich 70.000 Euro an die Heuschrecke Patricia verkauft. Die Patricia firmiert inzwischen als Südewo.
Jetzt könnte man vielleicht meinen, dass die Mieten aufgrund der S21-Baustelle zumindest vorübergehend nicht weiter steigen können. Aber weit gefehlt! Es ist der Mangel an Wohnungen, die Menschen dazu zwingt, hier auf der Baustelle zu wohnen – egal ob als Mieter oder als Besitzer einer Eigentumswohnung. Denn es gibt keine bezahlbaren Alternativen. Und es ist dieser Mangel an Wohnungen, der es der Südewo erlaubt, die Bestandsmieten immer weiter zu erhöhen und bei Neuvermietungen mitunter hunderte von Euro mehr Miete zu verlangen – trotz Baustelle.
Die Mieter in den ehemaligen Eisenbahnerwohnungen haben jetzt von der Südewo eine weitere Mieterhöhung bekommen. Eine Wohnung in der Rosensteinstraße, die Mitte 2012 noch 397 Euro Kaltmiete gekostet hat, soll ab August 2014 474 Euro kosten. Das sind 20% mehr. Gleichzeitig sind die Betriebs- und Heizkosten stark gestiegen.
Die Mieterinitiativen haben festgestellt, dass die Südewo genauso wie die SWSG die Mieten viel zu hoch im Mietspiegel einstuft. Die Wohnungen in der Rosensteinstraße werden zum Beispiel als beste Wohnlage eingestuft – wie der Killesberg. Hier gab es niemals Killesbergniveau bei der Wohnlage und aufgrund der Baulogistikstraße ist es erst recht alles andere als beste Wohnlage.
In einem Fall einer Wohnung hier im Nordbahnhofviertel hat das Amtsgericht die zu hohe Einstufung im Mietspiegel durch die Südewo aberkannt. Aber die Südewo ist dagegen in Berufung gegangen. Das zeigt mit welch harten Bandagen hier Mietabzocke betrieben wird.
Es gibt noch einen weiteren aktuellen Skandal. An der S-Bahnhaltestelle Nordbahnhof gab es ein Studentenwohnheim. Weil die Baulogistikstraße direkt an dem Gebäude vorbeigeht, wurde das Haus wegen der unzumutbaren Lärmbelästigung entmietet und den Studenten eine Alternative angeboten. Jetzt hat die Stadt Stuttgart in diesem Wohnheim 120 Flüchtlinge auf engstem Raum untergebracht. Das heißt Menschen, die durch ihre Flucht die Hölle auf Erden hinter sich haben, werden dem Höllenlärm der Baufahrzeuge direkt vor ihrem Fenster ausgesetzt. Das ist menschenunwürdig.
Im Nordbahnhofviertel wird deutlich, Stadtzerstörung bedeutet auch Zerstörung von noch bezahlbarem Wohnraum durch Mietspreistreiberei. Wenn das schon während der Bauphase von Stuttgart 21 der Fall ist, dann kann man sich leicht ausmalen, was im Nordbahnhofviertel passiert, wenn Stuttgart 21 fertig gebaut würde. Kein Mieter, der heute noch in diesen wunderschönen Backsteinhäusern in der Nordbahnhofstraße wohnt, wird die Mieten nach einer Modernisierung bezahlen können. Kein Mieter wird bei Weiterverkauf der Wohnungen in der Lage sein, die völlig überteuerten Preise für Eigentumswohnungen zu bezahlen. Den heutigen Mietern droht die Vertreibung aus ihrem Stadtteil.
Es ist gut, dass Mieter angefangen haben sich in Mieterinitiativen zusammenzuschließen, um gemeinsam gegen den Mietenwahnsinn zu kämpfen. Es ist gut, dass es einen Leerstandsmelder für Stuttgart gibt.
Die Mieterinitiative im Nordbahnhofviertel lädt für Mittwoch, den 30. Juli die Mieter der Südewo und alle anderen Interessierten zu einer Mieterversammlung um 19.00 Uhr ins Haus 49 in der Mittnachtstraße 18 ein. Schon bei der letzten Mieterversammlung haben die Nordlichter an der Versammlung teilgenommen und von den Auswirkungen von Stuttgart 21 auf das Viertel gesprochen. Das ist ein positives Beispiel von Vernetzung, das Schule machen sollte.
Recht auf Stadt für alle, statt Stadtzerstörung für die Profitinteressen von Wenigen!
Mieten runter in Stuttgart – Stuttgart 21 stoppen – oben bleiben im Widerstand!