Rede von Prof. Dr. Ferdinand Rohrhirsch, Sozialphilosoph und Theologe, auf der 227. Montagsdemo am 30.6.2014
Die Einladung zur Besinnung ist kein Aufruf zum Schweigen!
[Siegfried Busch hat auf seiner Webseite noch einige Quellen in den Text eingefügt, daher hier der Link auf Metropolis21]
Liebe Passantinnen und Passanten! Liebe Vorübergehende und Eilige, die ihr heute keine Zeit habt, keine Zeit, um mit uns an der hier stattfindenden Besinnung teilzunehmen.
Vermutlich seit ihr an Prioritäten gebunden und durch Termine gehindert, um mit uns, dem Thema nachzudenken, das uns immer wieder hier versammelt und zusammenbringt. Wir verweilen und ihr eilt – so ist es durchaus möglich, dass wir im Wege stehen und ein wenig bei euch anecken.
Wenn dem so wäre, dann bitte ich um Nachsicht. Aber um Entschuldigung bitten kann ich nicht. Weder ich, noch die hier Versammelten – da bin ich mir sicher – sehen den Sinn der montäglichen Veranstaltung darin, euch, liebe Mitbürger, vorsätzlich Nachteile aufzuhalsen oder euch, ihr Bürger dieser Stadt, mutwillig und willkürlich in eurer Lebensqualität zu beeinträchtigen.
Denn auch wir hätten anderes zu tun. Auch wir wollen unsere Lebenszeit für andere Zwecke nutzen, möchten schon lange zurückgestellte Pläne und Vorhaben angehen, statt hier Woche für Woche zu stehen und zu demonstrieren. Doch wir stehen hier, weil wir irgendwann bemerkt haben, aus unterschiedlichsten beruflichen und privaten Zugängen heraus – mitten in unserem Alltag – dass da etwas mit uns geschehen soll, mit uns gemacht werden soll, wir, als Mittel zu einem Zweck, gebraucht und benutzt werden sollen.
Jeder von uns hat es auf andere Weise bemerkt. Wir sind ein wenig langsamer gelaufen als sonst, sind ins Stocken gekommen, haben mit Hilfe des eigenen Sachverstandes, mit Hilfe der eigenen Erfahrungen – sei es als Pendler oder Reisender, als Eisenbahner, Architekt, Ingenieur, als Stadtplaner, Künstler, Beamter, Arbeiter, als Mensch mit Handicap, haben uns mitten im Alltag die Frage gestellt – was geht da vor sich, was ist da geplant?
Was ist da geplant, wenn in luftig, euphorisch und rosaroter Seifenblasenrhetorik Politiker, Unternehmer, Spekulanten und Journalisten vom Wohl von Pendlern reden, von Vorteilen für Reisende, von grandiosen Entwicklungsmöglichkeiten für Stadt, Land und Region palavern und Fortschritts-, Mobilitäts- und Innovationskategorien gebetsmühlenartig aneinander reihen?
Und die, die da langsamer gelaufen sind, selbst gedacht haben, die haben mit Erstaunen, Ungläubigkeit und zunehmender Empörung festgestellt, dass diejenigen, die da so großspurig vom Wohl für andere reden, vor allem ihr eigenes Wohl und dessen Mehrung im Blick haben.
Dass jede Rede, alle Kommunikation mit den Bürgern dazu dient, sie vor eine Wahl zu stellen, die von anderen schon entschieden worden war. Dass wir es für gut befinden sollen, dass ein Bahnhof und eine zu ihm gehörende, mehr als ausreichend und vielfältig anpassbare Infrastruktur vorsätzlich schlecht geredet wird und bewusst vernachlässigt wird. Und wir als Bürger es für gut befinden sollen, dass stattdessen ein absurd teurer Neubau durchgedrückt werden soll, der sich darin auszeichnet, dass er für obszön viel Geld, grotesk wenig Leistung bietet.
Herr Prof. Martin: Was bleibt mir denn zu denken anderes übrig, wenn sie sich zitieren lassen mit den Worten: „Der heutige Stuttgarter Hauptbahnhof entspricht 16 nebeneinanderliegenden Sackgassen ... Wenn ein Zug diagonal ausfährt, versperrt dieser eine Zug alle anderen Ein- und Ausfahrten.“ (http://www.region-stuttgart.org/vrsuploads/Interview_Martin.pdf)
Herr Grube, was bleibt mir den zu denken anderes übrig, wenn sie im Radio (SWR 1: Leute) im Brustton der Überzeugung sagen: „Der neue Bahnhof hat halb so viele Gleise und wird doppelt so viele Züge pro Stunde abwickeln.“
Was bleibt mir, meine Herren, bei solchen Aussagen denn anderes übrig, als den Schluss zu ziehen, dass Sie mich in geradezu unverschämter, unverfrorener Art und Weise für dumm verkaufen wollen. Dass uns eine schon vorher bekannte Minderleistung als Leistungssteigerung verkauft werden sollte, das ist das eigentlich Empörende. Wir sollen etwas wollen und für gut befinden, dass uns zurückwirft. Und eben nicht nur uns, die wir hier stehen, sondern auch die Vielen, die mit der Bahn tatsächlich und Tag für Tag zu tun haben.
Mathematisch-statistisch abgesicherte Modelle zu Schienenverkehren und konkreter Bahnbetrieb sind von zweierlei Qualität. Das gilt immer, aber vor allem dann, wenn wir uns als Pendler, Reisende, S-Bahn-Nutzer, Stadtbahnfahrer begreifen, die sich doch schon heute, bevor sie aus dem Haus gehen, fragen, und jeden Tag ein bisschen besorgter, was der Tag wohl wieder bringen mag?
Welche Linie ist heute dran? Wie geht heute das große DB Signal- und Weichenstörungsroulette für mich aus? Oder, gibt es heute schon wieder die doppelte Gewinnchance durch die Kombination mit der VVS-Bonusfrage „Wo lauert und wie lange dauert die Türstörung des Tages?“ Als Gewinn winken 40 Minuten Zusatzverspätung.
Liebe Eilige, liebe nicht Verweilende! Die Montagsdemos zielen nicht auf eure Verärgerung, sondern dienen einer Besinnung. Wobei Besinnung mit Besinnlichkeit nicht viel zu tun hat. „Besinnung“, so sagt es der zur Zeit viel gescholtene, vermutlich wenig gelesene und noch seltener verstandene Martin Heidegger: „Besinnung besteht darin, die Wahrheit der eigenen Voraussetzungen und den Raum der eigensten Ziele zum Fragwürdigsten zu machen.“ (vgl. Martin Heidegger, GA 5, S. 75).
Das täte einem jeden Menschen gut und einer Gesellschaft als Ganzer erst recht. Ganz besonders täte sie denjenigen gut, die immerzu von Fortschritt reden und nicht im Ansatz bereit sind, über Standpunkt – von wo aus – und Richtung – wo denn hin – nachzudenken. Fortschritt ohne Besinnung führt zu einem Rennen im Kreis. Und wer im Kreis rennt, dem nützt es wenig, wenn er noch ein wenig schneller rennt – weil er meint, dann sein Ziel früher zu erreichen.
Liebe Eilende und hier nicht Verweilende! Diejenigen die hier Woche für Woche stehen, bilden seit geraumer Zeit einen kleinen aber wirksamen Pfahl im Fleisch der öffentlichen Meinung und reibungsfreien Ordnung. Die, die hier stehen, sind die regelmäßig wiederkehrenden Störer des Alltäglichen, sind die Steine in einem Bachbett, an denen sich das stromlinienförmige Dahinfliesen des Alltags bricht. Die hier Stehenden sind überzeugt, dass es sich lohnt für eine Sache einzustehen, auch wenn eine Mehrheit sie anders sieht. Denn die hier Stehenden wissen: Mehrheit und Sachverstand haben nicht immer so viel miteinander zu tun.
Wer gravierende Missstände erkennt und Argumente dafür aufzeigen kann, der kann nicht einfach aufhören und sagen: Die Mehrheit hat entschieden – dann wird schon alles gut. Die Orientierung an der Wahrheit ist der Legitimationsgrund für Mehrheitsentscheidungen.
Liebe Eilende, nicht Verweilende: Sie können sicher sein, die hier Versammelten haben schon vor der Bemerkung Sigmar Gabriels, dass es Wichtigeres auf der Welt gibt, als gegen einen neuen Bahnhof zu protestieren, darüber nachgedacht – ob es richtig ist, hier Woche um Woche die Stimme zu erheben und für eine Sache einzutreten, von der sie sehr wohl wissen, dass von ihr nicht Wohl und Wehe der Welt abhängen, es bei ihr nicht um Krieg oder Frieden geht.
Lieber Herr Gabriel, das soll ihnen doch noch einmal ausdrücklich gesagt sein: Wir alle wissen, auf welch schmalem Grat wie uns bewegen. Aber gerade weil wir uns besinnen, d. h. unseren Standpunkt reflektieren, unsere Ziele überprüfen, können wir ihnen sagen: Ja, Herr Gabriel, sie haben Recht, es gibt Wichtigeres als diesen Bahnhof da vorne.
Doch das muss ihnen auch gesagt werden: Herr Gabriel. Wären Sie ein Erzengel – ja ein Engel nur, dann wäre eben bei uns die Sorge nicht da, dass sie mit ihrer Bemerkung etwas ganz anderes im Sinn haben, als uns zur Besinnung zu bringen.
Lieber Herr Gabriel, nun sind sie halt ein Politiker – ein Wirtschaftsminister, ein Vizekanzler gar, nehmen sie es uns also nicht übel, wenn wir davon ausgehen, dass es ihnen in erster Linie gar nicht darum geht, uns zur Besinnung zu bringen, sondern dass ihr primäres Ziel darin besteht, uns zum Schweigen zu bringen.
Denken Sie doch ein wenig nach, Herr Gabriel. Würde man ihrer Meinung folgen: Wer hätte dann überhaupt noch die moralische Rechtfertigung zu demonstrieren? Gäbe es dann nicht immer einen, der sagt – und zu Recht sagt – ihr habt zu schweigen, denn es gibt noch viel größeres Unrecht als das, wogegen ihr an Ort und Stelle innerhalb eurer Lebenswirklichkeit demonstriert.
Ich wiederhole mich hier gerne: Wie wissen selbst, dass wir einen schmalen Grat begehen, und jede Woche herausgefordert sind von unserem Gewissen. Vor unserem Gewissen haben wir uns zu verantworten Herr Gabriel, nicht vor ihnen.
Liebe Eilige, nicht Verweilende. Ob die öffentliche Bekundung des Protests zum Erfolg führen wird, das ist und bleibt offen. Alle hier wissen um die begrenzte Wirkung ihres Tuns. Aber diese hier und ich mit ihnen glauben, dass umfassendste Planungen und Berechnungen nicht ausreichen, das Schicksal bzw. die Entwicklung einer Gesellschaft zu steuern, zu lenken oder gar zu gestalten.
Das Unverfügbare lässt sich nicht berechnen und auch nicht beherrschen, das merken doch schon die, die meinen, man könnte die Natur rechnerisch in den Griff bekommen. Die werden noch ihre quellenden Wunder erleben, wie auch ihre Berechnungen noch ganz schön ins Erdrutschen kommen werden.
Die, die den Bahnbetrieb nur aus der Simulationsperspektive kennen, die werden stauen, wie bockig ein Bahnhof werden kann, wenn er mit Gleisneigungen gequält wird, die schon nicht mehr mit „abenteuerlich“, sondern nur noch mit dem Attribut „kriminell“ bezeichnet werden können.
Man darf keine Bahnhöfe bauen, in denen die Gleisneigung so groß ist, dass keine Fahrtrichtungswechsel, Verstärkungen Schwächungen, Lokwechsel, Bremsproben, keine gegenläufigen Doppelbelegungen mehr durchgeführt werden dürfen – also all das, was ein Eisenbahnbetrieb erfordert, wenn er aus der Perspektive der Reisenden und der Eisenbahner gedacht und gemacht werden soll.
(Was das mit der Gleisneigung bedeutet, können Sie jedem Interessierten im Moment am Gleis 5 oder 6 des Hauptbahnhofs zeigen. Von dort fahren 2-stündig die ICEs von Stuttgart nach Hamburg. Meist ist es ein 14teiliger ICE 1, der vom Triebkopf am Prellbock bis zum Spitzen-Triebkopf ca. 410 m und 70 cm lang ist. Sie gehen am Zug entlang und bleiben am Spitzen-Triebkopf stehen und besteigen in Gedanken den Sprungturm ihres Freibades. Schnell am Einer vorbei, kommt das 3m-Brett in Reichweite. Dort angekommen nehmen sie die Leiter nach oben, zum Fünfer. Hier nun werden sie im neuen Tiefbahnhof von eben dem Triebkopf begrüßt, den sie unten verlassen haben. Aber obwohl sie auf dem 5er-Turm stehen, können sie nun nicht über den Zug bis zu seinem Ende am Prellbock sehen, nein, sie sind erst auf Höhe der Schienenoberkante, auf der der Zug steht.)
Die, die so etwas entwerfen, planen und genehmigen, die müssen sich fragen lassen, ob sie noch alle Räder auf den Schienen haben?
Liebe Eilige, nicht Verweilende, wir laden euch herzlich ein, hier mitzumachen und das heißt nichts anderes als selbst zu denken.
Denjenigen, die hier Woche für stehen, denen sei gesagt: Ihr steht für viele, für viele, die so denken wie ihr und doch nicht hier sind. Ihr, die ihr hier steht, Woche für Woche, Euch gebührt nicht Missachtung, sondern alle Achtung, Ihr verdient einen Preis für euer bürgerliches Engagement.
Geld regiert die Welt, aber gibt ihr noch keinen Sinn. Die Gedenken, die wirklich lenken, die kommen ohne Geld und manchmal auf leisen Sohlen.
Heidegger zitiert einmal Nietzsche und lässt sich von ihm sagen: „Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt.“ In Stuttgart gibt es eine ganze Menge Tauben.
In diesem Sinne ist es nicht notwendig in die Luft zu gehen. Es reicht, wenn wir oben bleiben.
Literaturhinweise:
- Heidegger, Martin, Die Zeit des Weltbildes, in: Holzwege, (Gesamtausgabe, Bd. 5), Frankfurt am Main: Klostermann 1977, S. 75-113.
- Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra. (Zweiter Teil. Die stille Stunde.) Nietzsche´ Werkes (Großoktavausgabe). Band VI, Leipzig 1923, S. 217.
- Rohrhirsch, Ferdinand: Philosophie, Eisenbahn und Stuttgart 21, 3. Auflage 2011, Heidenheim, ISBN 978-3-925887-31-4