Stadtbahn-Chaos und die Auswirkungen auf die Arbeitnehmer
Liebe Freundinnen und Freunde einer funktionsfähigen und lebenswerten Stadt,
als Einzelpersonen waren wir seit Anfang der Proteste dabei, und irgendwann erkannten wir, dass es nicht nur schön ist, auf den Demos gegen S21 so viele Gewerkschaftskolleg(inn)en zu treffen, sondern dass das seinen Grund in den gewerkschaftsrelevanten Themen hat. Und so haben sich Mitglieder aus verdi, IG Metall, GEW und weiteren im April 2010 zusammengetan als „Gewerkschafter/-innen gegen S21“. Wir sind Mitglied im Aktionsbündnis, und unsere Arbeit richtet sich nach zwei Seiten: zum einen in die Gewerkschaften hinein, wo oft immer noch die Hochglanzmärchen der Projektmacher kursieren, und zum anderen in die Widerstandsbewegung, wo wir immer wieder aufzeigen, welche Auswirkungen S21 auf die Arbeitswelt hat.
Es ist kein Geheimnis: Nur Menschen, denen es gutgeht, können gute Arbeit leisten. Deshalb sind gute Rahmenbedingungen von Arbeit so wichtig, zum Beispiel die Mobilität zwischen Wohnung und Arbeitsplatz. Besonders betroffen sind alle, die darauf angewiesen sind, von Bussen und Bahnen täglich verlässlich und pünktlich an ihre Arbeitsplätze gebracht zu werden, an Ausbildungsplätze, an Schulen und Universitäten, als Einpendler oder als Auspendler. Wurden sie durch das S-Bahn-Chaos der letzten Monate ohnehin schon arg gestresst, könnte ihnen nun auch das bislang so zuverlässige Alternativangebot der SSB wegbrechen. Auch wenn die 14. Planänderung „Nesenbachdüker“ mit Haltestelle Staatsgalerie und neue Stadtbahntunnel vom EBA nicht genehmigt ist, sollten wir uns mit den drohenden Folgen für unsere Stadt befassen. Dem geplanten Bahnhofstrog ist die Stadtbahnhaltestelle Staatsgalerie im Weg. Sie ist ein wichtiger Verteiler für insgesamt sechs Stadtbahnlinien, und soll höher gelegt werden, damit der Kellerbahnhof drunter durch passt. Nun droht zum S-Bahn-Chaos auch ein Stadtbahn-Chaos mit Vollsperrungen von optimistisch gerechnet insgesamt drei Jahren. Auf der Montagsdemo vor drei Wochen wurde die „Stadtbahnkampagne“ vorgestellt, und ich will mal ausmalen, was diese eine große Baumaßnahme für die arbeitende Bevölkerung mit sich bringt:
- Das morgendliche Gedränge an den Umsteigehaltestellen Charlottenplatz und Hauptbahnhof wird ansteigen. Wenn bei der einen neunmonatigen Vollsperrung der Charlottenplatz vom Stöckach aus nicht mehr direkt angefahren werden kann, sondern alles zum Hauptbahnhof umgeleitet wird, müssen am Hauptbahnhof auf der selben Fläche drei zusätzliche Stadtbahnlinien mit allen zusätzlichen Fahrgästen abgefertigt werden. Bei der 26-monatigen Vollsperrung zwischen Staatsgalerie und Hauptbahnhof erwartet uns entsprechendes. Wer wird es unter solchen Umständen wagen, kleine Kinder alleine zur Schule zu schicken?
- In Folge der Verlegung der Stadtbahnhaltestelle müssen sich die Menschen auf ihrem Weg zur Arbeit durch Baustellenumleitungen und wechselnde Umsteigebeziehungen kämpfen. Ein verlässlicher Fahrplan ist bei der verdichteten Streckenbelegung nicht durchführbar, also gibt es auch keine verlässlichen Umsteigezeiten. Die Menschen sind gestresst, noch bevor sie am Arbeitsplatz eintreffen, und wenn sie nicht pünktlich sind, gibt´s Stress mit dem Arbeitgeber.
- Familien, die die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie jetzt schon nur stabsmäßig organisiert hinbekommen, müssen bei jeder Änderung umplanen. Der seit 2013 gesetzlich garantierte KiTa-Platz garantiert weder Wohnortnähe noch Arbeitsplatznähe. Wie würde es Ihnen ergehen, wenn Sie in Zuffenhausen wohnten, einen KiTa-Platz in West bekämen, und dann noch zu Ihrer Arbeit nach Wangen müssten?
- Beschäftigte der Stadt Stuttgart, die von OB Fritz Kuhn ab April 2014 mit einem kräftigen Zuschuss zum Umsteigen auf Busse und Bahnen motiviert werden sollen, werden sich wundern, wenn sie beim Umstieg auf die Stadtbahn auf chaotische Zustände treffen. Vielleicht steigen sie dann gleich wieder aus, und eine gute Maßnahme verkehrt sich ins Absurde
- Es trifft übrigens nicht nur ÖPNV-Benutzer. Die Unterführung der Haltestelle Staats-galerie ist seit Jahren ein wichtiger täglicher Durchgang für die Anwohner aus dem Kernerviertel Richtung Innenstadt– zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Diesen Weg wird es ab dem Umbau nicht mehr geben. Alternativen zum Queren der B10 gibt es nur bei der Brücke am Hotel Meridien, oder bei der Unterführung zum Opernhaus – beide nicht barrierefrei.
Auch die Kolleg(inn)en von der SSB werden zusätzlich belastet. Ihr angesehenes und als zuverlässig bekanntes kommunales ÖPNV-Unternehmen gerät durch die Nibelungentreue seines Vorstands zu S21 immer mehr in den Sog des Chaos der Bahn. Immer wenn die Bahn wieder mal umplant, muss in Folge auch die SSB alle fertig geplanten Baumaßnahmen einstampfen und neu entwickeln. Was für eine sinnlose Vergeudung von Arbeit!
Auch das SSB-Personal kann sich dem Chaos nicht entziehen, da viele der Kolleg(inn)en zu ihrem Schichtdienst selber mit den Öffentlichen unterwegs sind. Wie gut wird der Fahrerwechsel klappen?
Den größten Stress werden die Kolleginnen und Kollegen der SSB erleben, die im direkten Kontakt mit den Fahrgästen sind (Busfahrer/-innen, Kontrolleure und das Servicepersonal an Kundencentern und Haltestellen). Sie werden viel auszuhalten haben, und brauchen starke Nerven für die Auseinandersetzung mit der erbosten Kundschaft.
Vor allem an sie richtet sich der Flyer der ‚Gewerkschafter/-innen gegen S21‘, den wir an die SSB-Beschäftigten verteilen. Wir wollen ihnen signalisieren, dass uns klar ist, dass das Stadtbahn-Chaos nicht Schuld der SSB-Beschäftigten ist. Dass es aber notwendig ist, mit allen SSB-Ebenen ins Gespräch zu kommen, um herauszufinden, wo man eingreifen muss, damit die SSB auch weiterhin ihren wichtigen Beitrag zur öffentlichen Daseinsvorsorge leisten kann. Es wird nicht immer einfach sein, den wahren Verursacher des Chaos, also S21 zu benennen, weil S21 bei der SSB scheinbar nicht infrage gestellt werden darf. Aber wir wollen das Thema so weit in die SSB hinein tragen, dass bei der nächsten Aufsichtsratssitzung am 01.04.2014 darüber gesprochen wird. Denn auch wir brauchen Antworten.
Wir sollten uns bei unserer Kampagne übrigens nicht dadurch ausbremsen lassen, dass die großen Beeinträchtigungen nach neueren Meldungen erst 2016 kommen sollen, und nicht, wie ursprünglich geplant, schon Ende 2014.
Zum einen war es noch nie verkehrt, vorausschauend zu planen und zu handeln. Zum anderen sollte uns das Verschieben auf 2016 aufmerksam machen, denn es zeigt uns die immense Scheu der Projektbetreiber vor der deutschlandweiten Öffentlichkeit. Sicher haben viele die Diskussionen um den Ev. Kirchentag 2015 in Stuttgart mitbekommen, einer Veranstaltung, bei der 100.000 aufmerksame Menschen in der Stadt erwartet werden. Angesichts dieser Menschenmenge und angesichts der anstehenden Verkehrsbehinderungen wurde in den letzten Monaten überlegt, ob man den Kirchentag nicht lieber komplett außerhalb Stuttgarts in der Flughafenmesse stattfinden lassen soll. Den Kirchentag ausfallen zu lassen wäre zu blamabel für Stuttgart, und Schwupps wurden die Bauarbeiten, die den ÖPNV behindern, verschoben auf „nach dem Kirchentag“. Wie entlarvend!
Liebe Freundinnen und Freunde dieser Stadt Stuttgart, einer Stadt, die sich langsam einem Zustand nähert, der ihren Bewohnern keinen guten Lebensraum mehr bieten kann. Einige Wenige –aber Mächtige – scheinen die Komplexität und das Lebensrecht dieser Stadt nicht zu kennen; oder sie kennen es und missachten beides trotzdem. Anstatt sie zum Vorteil aller zu entwickeln, verscherbeln sie die Stadt an Investoren, als wäre sie eine Hure. Von diesen Mächtigen werden uns die Regeln eines kapitalistischen Wirtschaftssystems aufgedrückt, das sich einen Dreck schert um die Stöchiometrie einer gelingenden Gesellschaft. Solchem Denken das Schicksal einer ganzen Stadt zu überlassen, ist fahrlässig, und produziert letztlich nur Verlierer.
Zu den Lebewesen in dieser Stadt gehören nicht nur Menschen (und auch da Reiche wie Arme), sondern auch Pflanzen wie die Leben spendenden Bäume und die Tiere mit all ihren Lebensrechten. Wo immer sie von einem Projekt betroffen sind, können die Gesetze der Betriebswirtschaft allein dem Thema nicht gerecht werden. Da braucht es ganz andere Regularien; aber weil diese den Profit der Investoren schmälern würden, werden sie uns bei den verheißungsvollen Machbarkeitsberechnungen geflissentlich unterschlagen. Wenn man alles einbezieht, kann auch die ganze Stadt als ein lebendiger Organismus begriffen werden, der uns Menschen Heimat bietet und der Natur Raum und Schutz, damit beide sich ihrer Art gemäß entfalten können. Über ‚artgemäßes Leben‘ sollten wir uns übrigens nicht nur dann engagiert auseinandersetzen, wenn die Wilhelma ein neues Affenhaus baut, sondern auch wenn es um ein artgerechtes Leben für unsere eigene Art geht, sonst sind wir vielleicht wirklich bald eine untergehende Zivilisation.
Liebe Freundinnen und Freunde einer funktionierenden Stadt, am kommenden Mittwoch – übermorgen – wird uns der Warnstreiktag von ver.di vor Augen führen, was es heißt, wenn der Öffentliche Dienst mal für einen Tag nicht voll zur Verfügung. Besonders sichtbar wird das immer bei der SSB. So wie wir unsere Kollegen und Kolleginnen von der SSB kennen, werden am Mittwoch in Stuttgart keine einzige Stadtbahn und kein einziger Bus fahren – Respekt! Ich erinnere mich noch gut an den mehrwöchigen Streik in 2006. Da hat uns Bernd Riexinger gesagt: „Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten“. Wie recht er doch hat! Öffentliche Daseinsvorsorge ist wichtig für ein funktionierendes Gemeinwesen, aus dem sich niemand ausklinken darf!
Egal wo man hinschaut beim Projekt S21: Sobald man Dinge bis zu Ende denkt, bemerkt man, dass es nicht funktioniert.
Appell an den Gemeinderat: S21-Verträge kündigen und Stuttgarter Interessen vertreten
Appell an uns: Wachsam bleiben – Bürgerbegehren unterschreiben – Oben bleiben!