Fotos: Wolfgang Rüter
Wolfgang Rüter schickt uns diesen Bericht der Verhandlung am Landgericht Stuttgart im Prozess wg. Ankettens am Südflügel und im Mittleren Schlossgarten:
Landgericht kommt im Ankettungsprozess zu neuem Urteil
Am Dienstag und Freitag , 21. und 24. Januar 2014, wurde die Berufungssache zu den beiden Ankettungsprozessen am Südflügel und an einem Baum im Mittleren Schlossgarten – Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte so der Strafvorwurf – neu in insgesamt über 15 Stunden verhandelt. Der vorsitzende Richter am Landgericht Stuttgart, Rainer Gless, nahm sich die Urteile des Amtsgerichts Stuttgart akribisch vor und bewertete sie neu. Ihm zur Seite standen zwei Schöffen. Sie wurden zu Beginn der Verhandlung vereidigt und schworen „soweit ihnen Gott helfe“. Die Angeklagten, Nina P. und Myriam R. wurden von ihren Verteidigern RA Jürgen Hemeyer und RA Walter Zuleger begleitet. Die Staatsanwaltschaft war von StA Höschele vertreten. Das große Interesse an dieser Berufungssache wurde von rund 40 ZuhörerInnen bekundet sowie von zwei Pressevertretern. Auf justiziale Wachmeister verzichtete der Richter. Das auszugsweise Verlesen der Urteile des Amtsgerichts nahm der Richter u.a. auch deshalb vor, damit sich die Schöffen ein Bild von den Vorkommnissen machen konnten.
In ihren hervorragenden Einlassungen legten die Angeklagten ihre Motive dar, wie sie zu ihrer Handlung kamen und weshalb sie diese ausführten. Diese und auch andere Aktionen seien aber stets im Rahmen des Konsenses des Aktionsbündnisses erfolgt. Sie waren sich außerdem bewusst, dass ihre Aktionen weder den Südflügelabriss noch die Baumfällungen im Mittleren Schlossgarten verhindern könnten. Sie wollten aber mit ihren Aktionen starke symbolische und medienwirksame Zeichen setzen. Plakate zu zeigen habe zu wenig Wirkung; eine Ankettung erzeuge da schon deutlich mehr Aufmerksamkeit. So sahen die Angeklagten in diesen Aktionen die einzige Möglichkeit, ihre enge Verbundenheit zum abrissgefährdeten Bahnhof und zu den fällgefährdeten Bäumen zu zeigen, und die Presse deutschlandweit dafür zu interessieren, die sonst S21-Themen weitgehend ignorierten, insbesondere die Zeitungen in und um Stuttgart. Dass das Amtsgericht und die Staatsanwaltschaft Stuttgart aus einer solchen Aktion aber Gewalt und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gemacht habe obwohl sich die Angeklagten durch ihre Ankettung in einer hilflosen Lage befanden, in die sie sich selbst gebracht hatten, sei nicht nachvollziehbar und unverständlich. Bei denjenigen, die hier auf der Basis von Lug und Betrug und Manipulation ein Projekt namens Stuttgart 21 betreiben, werde dagegen nicht ermittelt, geschweige denn ein Anfangsverdacht wegen Betrugs erhoben. Das sei schon merkwürdig und bezeichnend.
Die drei als Zeugen geladenen Polizisten, die einer technischen Einheit angehörten und die die Fahrrad-Bügelschlösser bzw. die Ketten lösen sollten, mit denen sich die Angeklagten angekettet hatten, sagten unisono aus, dass sich die Angeketteten kooperativ verhalten und nicht gewehrt haben. Das eigentliche Befreien der Angeketteten mittels eines Winkelschleifers/Freischneiders (Flex) habe nur ca. ½ bis 1 Minute gedauert nachdem das Durchtrennen der Bügelschlösser mittels einfachem sowie hydraulischem Bolzen nicht möglich war. Der Zeitaufwand, also Vorbereitung, Materialbereitstellung und Versuche hätten in einem Fall ca. eine Std. und im anderen Fall ca. zehn 15 Min. gedauert.
Der zweite Verhandlungstag erfolgte im größeren Schwurgerichtssaal zusammen mit ca. 25 Zuschauer(inne)n. Es wurden mehrere DVDs angesehen. Dazu waren eine Leinwand und ein Beamer aufgestellt, sodass auch die Zuschauer sich die Polizeivideos mit ansehen konnten. Dem Staatsanwalt dauerte das alles zu lange. Er fragte beim Ansehen der dritten DVD, ob man sich das alles nochmal ansehen müsse. Darauf der Richter: Auf die paar Minuten kommt es auch nicht mehr an.
In seinem Plädoyer sagte der Staatsanwalt, er wolle es ganz kurz machen. Im Hinblick auf das Strafmaß führte er u. a. an, dass die Angeklagten „gute“ Bilder und Aufmerksamkeit erzeugen wollten und sie nur durch Polizeikräfte einer technischen Einheit zu lösen gewesen seien. Sie seien der Aufforderung, sich vom Demonstrationsort zu entfernen, nicht nachgekommen, weil sie angekettet waren. Durch die Ankettung hätten sie verhindern wollen, weggetragen zu werden. Damit hätten sie Widerstand und Gewalt gegen Vollstreckungsbeamte geleistet und für das Losmachen sei ein erheblicher Aufwand erforderlich gewesen. Er beantrage daher ein Strafmaß für Nina P. von 15 Tagessätzen à 45 Euro sowie 40 Tagessätze à 25 Euro, zusammen 50 Tagessätze à 45 Euro und für Myriam R. 15 Tagessätzen à 25 Euro sowie 40 Tagessätze à 25 Euro, zusammen 50 Tagessätze à 25 Euro. Das Amtsgericht hatte das Strafmaß zuvor auf 30 Tagessätze à 40 Euro bei Nina P. und auf 40 Tagessätze à 25 Euro bei Myriam R. festgesetzt.
Verteidiger Zuleger führte in seinem Plädoyer u.a. an, dass im Winter 1946, wo die Menschen fast erfroren seien, kein einziger Baum im Schlossgarten angerührt wurde im Vergleich zu den Fällungen eines alten Baumbestands im Februar 2012 im Mittleren Schlossgarten für ein umstrittenes Großprojekt, wogegen seine Mandantin protestiere, genau so wie gegen den Abriss der beiden Seitenflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Mit ihrem Ankettenketten sollte die Verbundenheit zu Bahnhof und Bäumen demonstriert werden. Im Übrigen sei von der Polizei nicht danach gefragt werden, ob sie weggehen könne. Der Staatsanwalt verfolge in seinen Strafanträgen die sogenannte Stuttgarter Line.
Verteidiger Hemeyer meinte in seinem Plädoyer, dass er sich dem StA dahingehend anschließen könnte, es „ganz kurz zu machen“. Was die spektakuläre Aktion angehe, so habe die Einlassung seiner Mandantin sehr gut aufgezeigt, was sie tatsächlich wollte. In Sachen S21-Protesten handelten Politik und in Fortsetzung die Justiz verantwortungslos. Urteile im Landgericht fielen deutlich anders aus als im Amtsgericht. So wurden zum Beispiel Bürgerrechte nicht beachtet. Die Vereidigung der Schöffen habe er hier erstmals gehört, was einmalig ist. Zuletzt habe er das als Verteidiger vor 30 Jahren bei Prozessen gegen die Nachrüstung in Großengstingen erlebt. Dem StA hielt er vor, dass es seiner Mandantin um Aufmerksamkeit und nicht um die Verhinderung der Befreiung ging. Außerdem seien die Aussagen der Polizei-Zeugen nicht gewürdigt worden. Im Übrigen habe man in Stuttgart einen Oberstaatsanwalt gehabt der Überzeugungstäter und am 30.09.2010 sowie bei der Parkräumung in der Nacht vom 14. auf den 15.02.2012 selber vor Ort gewesen war. Wie zudem eine sich selbst in eine hilflose Situation gebrachte Person Gewalt ausgeübt haben soll, sei ihm schleierhaft. Nur Juristen reduzierten so etwas auf Gewalt. Das Sitzen auf der Straße sei keine Gewaltanwendung, sondern in diesem Fall eine körperliche Meinungsäußerung und es wurde ein Bild erzeugt, was rührt. Auch wurde das Schlossentfernen nicht entfernt sondern gefördert. Es fehle anscheinend hier die Fähigkeit zu unterscheiden, was das Anliegen war und ob sie nicht hätte wegführen lassen wollen. Seine Mandantin habe staatsbürgerliches Verhalten gezeigt. Und das soll Widerstand gegen die Staatsgewalt sein? Eine Kette durchzuflexen soll Nötigung und Gewalt sein? Das stoße bei ihm auf Unverstand. Die Verurteilung durch das Amtsgericht sei in keiner Weise nachvollziehbar und kein rechtstaatliches Gerichtsverfahren. Er beantrage daher einen Freispruch und die Aufhebung der ergangenen Urteile.
Nina P. in ihrem Schlusswort: Menschen sollten über Bilder nachdenken. Gewalt sei das, was Befürworter des Projekts S21 alles gemacht haben, nicht anders herum. Die Menschen verstünden unter Gewalt zum Beispiel den ausgeübten Druck seitens der Bahn auf Stadt und Land in der Form, dass wenn erst einmal dieses und jenes gemacht ist und das Geld dann nicht mehr reicht, weitere Forderungen gestellt werden. Ebenso werden Tausende von Polizeibeamte durch den Rahmenbefehl unzulässig beeinflusst. Demokratie in Stuttgart gibt es nicht. Sie habe etwas anderes kennen gelernt. Und in Deutschland gibt es im politischen Sinne zwar keine Diktatur, wohl aber eine Wirtschaftsdiktatur.
Wehret den Anfängen, so Myriam R. in ihrem Schlusswort. Diesen Satz habe sie von ihrem Vater gehört und verinnerlicht. Er habe den Krieg erlebt, mit ihr zusammen Filme angeschaut in denen gezeigt wird, wie Hitler an die Macht gekommen ist. Es erschrecke sie hier wie eine üble Straftäterin behandelt zu werden wo andererseits gegen einen OStA Häußler, der für in Italien rechtskräftig verurteilte Kriegsverbrecher und ehemalige SS-Angehörige kein Verfahren eröffnet, nicht ermittelt wird. Ihr Ziel sei, ein starkes Bild in die Öffentlichkeit zu bringen und den Aktionskonsens des Bündnisses dabei einzuhalten. Sie fordere Freispruch.
Nun war der Richter mit seinen Schöffen nach über einstündiger Beratung mit der Verkündung des Urteils „im Namen des Volkes“ wie folgt dran: Das Urteil des Amtsgericht werde abgeändert, weitere Urteile die inzwischen verjährt sind werden aufgehoben bzw. ergeben einen Freispruch. Das Strafmaß wird zu einer Ordnungswidrigkeit mit 200 sowie 150 Euro herabgestuft. Den Angeklagten werden ¾ der Gerichtskosten erlassen. In seiner Begründung führte er aus, dass Gegenstand des Urteils nicht die Sinnhaftigkeit, sondern was sich die beiden Angeklagten bei ihrer Aktion dabei gedacht hätten. Bei diesem Urteil handle es sich um eine Einzelfallentscheidung und nicht um eine Generalisierung. Der Sachverhalt sei weitgehend unstrittig. Gleichwohl hätten beide nach bedingtem Vorsatz gehandelt. Ihr Ziel sei gewesen, eine Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeitswahrnehmung zu erlangen da eine Verhinderung des Abrisses des Südflügels und die Baumfällung im Schlossgarten nicht möglich war und das unter unwirtlichen Bedingungen. Beweiswürdig sei, dass sie den Sachverhalt eingeräumt und keine Gewalt ausgeübt haben. Als Schwerpunkt in der rechtlichen Würdigung könne das Landgericht entgegen der Ansicht von Staatsanwalt Höschele keine zeitliche und räumliche Nähe der Aktion erkennen. Die Angeklagten hatten sich lange vorher angekettet.
Wenngleich das Einsetzen lediglich des eigenen Körpergewichts (Hinsetzen) keine Gewalt ist, so könne das Verstärken, wie hier mit einem Bügelschloss, Gewalt sein. Rechtswidrig ist eine Tat nach § 240/2 (Nötigung), wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Das sei hier aber nicht der Fall gewesen. Die Polizisten mussten hier zwar eine Barriere überwinden, aber es war nicht Zweck, sich abflexen zu lassen, sondern es ging den Angeklagten um die Aufmerksamkeit. Deshalb musste hier eine Verwerflichkeitsprüfung erfolgen. Auch hinsichtlich der Abwägungselemente seien die Auswirkungen gering gewesen.
Für die Polizei war es ein Routine-, nur ein Bagatellfall. Da die Angeklagten über gut sechs Stunden in diese Lage festsaßen, waren sie selbst weitaus mehr betroffen. Die äußere Gestaltung ihrer Aktion erfolgte in engem Zusammenhang mit dem Projekt ohne eigennütziges Ziel. Somit war die Aktion nicht verwerflich, nicht rechtswidrig und nicht kriminell. Die Aktion der Südflügelankettung vom 13.01.2012 liege über zwei Jahre zurück und sei damit verjährt. Beide Angeklagte werden in diesem Fall freigesprochen und die Urteile aufgehoben. Die Ankettung an einen Baum im Schlossgarten vom 15.02.2012 sei keine Versammlung sondern nur eine Ansammlung gewesen. Dabei hätten sich beide selbst in eine Nichtentfernungsmöglichkeit begeben und das sei ordnungswidrig. Zudem hätten beide ein erhöhtes persönliches Opfer erbracht. Das Strafmaß wurde vom Richter auf 150 bzw. auf 200 Euro festgesetzt.
Leider bin ich teilweise falsch verstanden worden:
Die Vereidigung der Schöffen ist nicht einmalig. Einmalig ist die Situation, dass die Schöffen in ihrem ersten Prozess nicht mit einer kriminellen Handlung sondern mit einer verantwortlichen staatsbürgerlichen Aktion konfrontiert wurden.
Es ging auch nicht um das „Sitzen auf der Straße“ sondern um die Ankettung von Nina Picasso und Myriam Rapp am 13.01.2013 am Südflügel und am 15.02.2013 aneinander und an einen Baum im Schlosspark.
Sowohl in der Kurzform wie in der Langform wurde deutlich zum Ausdruck gebracht:
Das Anketten war eine öffentlichkeits-wirksame körperliche Meinungsäußerung und durfte deshalb nicht als „Gewalt“ kriminalisiert werden – eine Verbindung mit dem Südflügel kurz vor dem Abbruch – und eine Verbindung mit einem Parkbaum kurz vor dem Herausreißen.
Vor 30 Jahren habe ich vor dem Jugendschöffengericht einen Freispruch wegen Ankettung vor der Eberhard Finkh-Kaserne in Großengstingen als Protest gegen die sogenannte Nachrüstung (Pershing II-Raketen und Cruise Missiles) erzielt. Es war das historisch erste Blockadeverfahren. Und der Freispruch musste mit den Stimmen der beiden Schöffen gegen den damaligen vorsitzenden Richter Vatter von diesem ausgesprochen werden.
Was die Schöffenvereidigung angeht, so findet die einmalig vor dem ersten Verfahren im Laufe ihrer vierjährigen Amtszeit statt. Was für ein Verfahren das jeweils ist, ist zufällig. Das „So wahr mir Gott helfe“ ist dem Schöffen überlassen.
Das war ein hart erarbeitetes Urteil. Es ist von den Angeklagten und der Verteidigung viel Ueberzeugungsarbeit geleistet worden. Die Staatsanwaltschaft ist nicht damit durchgekommen, couragiertes und menschlich geradliniges Verhalten als kriminell und sozialschädlich hinzustellen – dafür war die Diskrepanz zwischen dem Tatvorwurf und dem Auftreten der Angeklagten einfach zu gross.
Der Richter hat dies auch in seiner Urteilsbegründung gewürdigt und die Entscheidung der Kammer mit dem Einzelfall und als situationsabhängig begründet – ein Grundsatzurteil ist dies eher nicht. Wohl aber ein persönlicher Erfolg.
Beharrlichkeit, Freundlichkeit und Unbeugsamkeit können sich auszahlen- das kann auch Vorbild für die Weiterführung der Proteste gegen S 21 sein.
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