Gedanken zu unseren Anti-S21-Aktionen von Martin Poguntke (Theologe gegen S21)
Unsere Vielfalt ist unsere Stärke.
Erhalten wir diese Vielfalt – auch wenn wir dabei mit Aktionen identifiziert werden, mit denen wir nicht identifiziert werden wollen!
Das sollten wir aushalten – um der Sache willen!
Liebe Mitstreiter und Mitstreiterinnen,
ich möchte hiermit einen Debattenbeitrag leisten und hoffe, dass ich die Diskussion in unserer Bewegung damit ein wenig bereichere. Ich würde nämlich gerne die Frage der richtigen Aktionsformen bei unserem Widerstand gegen S21 etwas tiefer hängen – und zwar vor allem aus folgendem Grund:
Jede Aktion kann gegen uns gewendet werden
Die gesellschaftlich Mächtigen können jede, wirklich jede unserer Aktionen gegen(!) uns wenden. Als wir am Volksentscheid mitgemacht haben, haben sie ihn manipulieren können und werfen uns nun vor, wir seien undemokratisch. Hätten wir nicht(!) mitgemacht, hätten sie uns unterstellt, wir wüssten, dass wir keine Mehrheit hätten, und wir seien – wiederum – undemokratisch. Blockieren wir die Straßen, sagen sie, wir seien undemokratisch und gewalttätig. Demonstrieren wir unauffällig sagen sie, es gebe uns nicht mehr und wir hätten uns geschlagen gegeben. Weichen wir von dem Demonstrationsweg, den sie uns vorgeschrieben haben, ab, sagen sie, wir seien außerhalb des Rechtsstaats. Folgen wir brav allen Auflagen, schreiben sie gar nicht mehr über uns und verbreiten, es gebe uns nicht mehr. usw.
Ich schließe daraus: Jede, aber wirklich jede (selbst die allerfreundlichste und sympathischste) Aktion kann sowohl gegen (!) uns gewendet werden als auch zu Reaktionen führen, die einen kritischen (!) Diskurs in Gang setzen. Und jede, aber wirklich jede (selbst die radikalste und kompromissloseste) kann sowohl zu einem positiven (!) Aufschrei in der Öffentlichkeit führen als auch zu einer vernichtenden (!) Gegenreaktion.
Nicht die Aktionsform als solche scheint mir deshalb das Entscheidende, sondern dass wir immer und immer wieder in den öffentlichen Diskurs eingreifen mit immer neuen phantasievollen, überraschenden, feinsinnigen oder grobschlächtigen Aktionen. Wir müssen dem Diskurs „Futter“ geben, weil das immer und immer wieder die Chance birgt, dass Aufklärerisches oder Kritisches in der Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert wird. Ob aber unser „Diskursfutter“ so wirkt, wie wir es denken – das haben wir nicht in der Hand.
Bitte keine Distanzierungen!
Ich denke, die Anti-Atomkraft-Bewegung in Norddeutschland hat das erkannt. Dort gibt es (nach meiner Wahrnehmung) nebeneinander alle möglichen Aktionsformen (von der braven Petition an den Landtag bis zur Traktorblockade und das Anketten an Gleise). Und niemand nennt die eine oder die andere Form die richtige oder falsche, gefährliche oder hilfreiche. Und niemand distanziert sich von den Aktionen der einen oder der anderen, sondern man sagt: Die Bewegung ist vielfältig und selbstbestimmt; keiner ist für den andern verantwortlich, und keiner distanziert sich vom andern.
Das hätte ich gerne für uns hier in Stuttgart: Dass wir erkennen, dass niemand über so unendlich großen Überblick verfügt, dass er sagen könnte, welche Aktionen wann wie wirken. Das ist Hybris, Selbstüberschätzung; oft auch Lust am Bestimmen.
Lasst uns in unseren diversen Gruppen und Initiativen lebendig diskutieren, von welchen Aktionen wir uns gegenwärtig intensive Impulse für den Herrschaftsdiskurs erwarten. Aber lasst uns nicht einander den Vorwurf machen, wir würden durch die eine oder andere Aktion die Bewegung schwächen. Das weiß niemand. Das kann niemand beurteilen.
Lasst uns solidarisch sein! Freuen wir uns mit, wenn Leute Aktionen machen, die wir selbst für schrecklich halten, die aber eine Wirkung auf die Gesamtkommunikation haben, die wir nicht und die niemand vorhersehen kann!
Lasst uns also fröhlich dem Demoverbot am Hbf Folge (!) leisten und hinterher fröhlich in der Zeitung lesen, dass es einige von uns nicht (!) getan haben! Lasst uns also fröhlich auf dem Marktplatz demonstrieren und fröhlich sehen, dass hinterher einige von uns den Verkehr blockieren! Lasst uns also fröhlich in mehreren (!) Gruppen demonstrieren, aber lasst uns kein Wort über die Lippen kommen, die einen oder die anderen seien die Richtigen oder die Gefährder unsrer Bewegung! Lasst uns solidarisch eine so große Vielfalt leben, dass die gesellschaftlich Mächtigen sich täglich neu sortieren müssen, weil wir nicht kalkulierbar sind!
Wirkungen unserer Aktionen sind seriös nicht vorhersagbar
Mir erscheint die Diskussion sowohl um den richtigen Demonstrationsort (Marktplatz, Lautenschlager-, Schillerstraße, Hbf.) als auch um die richtigen Aktionsformen (Blockieren, Stören, Präsenz zeigen, Informieren) seit einiger Zeit als Phantomdiskussion. Die Faktoren, die bei der Beurteilung eine Rolle spielen, wie eine bestimmte Aktion tatsächlich im Endeffekt wirkt, sind so viele und so unkalkulierbare, dass es mir scheint wie bei einer Vier-Wochen-Wettervorhersage: Das ist seriös nicht machbar.
Vielmehr müssen wir m. E. die Herrschaftssituation akzeptieren: Wer die gesellschaftliche Macht hat, hat relativ großen Einfluss auf Medien und politische Akteure und kann deshalb Kampagnen so fahren, dass er die Wirkung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorherberechnen kann. Wir haben aber nicht die gesellschaftliche Macht. Das heißt: Wir können in den von den Akteuren der Macht bestimmten Kommunikationszusammenhang nicht wirklich zielgerichtet, planbar und vorhersagbar eingreifen. Wir können „nur“ Informationen, Stimulantien und Irritationen in diesen Kommunikationszusammenhang einbringen und darauf warten, was sich daraus entwickelt. Natürlich überlegen wir nach größtmöglicher Rationalität, welche Aktionen wir wann wie wirkungsvoll finden. Aber das sind bestenfalls Wahrscheinlichkeiten, über die wir da reden, keinesfalls festes Wissen, das wir einander als Grundsatzpositionen um die Ohren hauen könnten.
Anregung des öffentlichen Diskurses – Verstärkung der Widersprüche
Unsere Chance besteht nicht in dem Weg, den die gesellschaftlich Mächtigen gehen können, dass wir gezielt die Öffentlichkeit beeinflussen oder manipulieren könnten und wollten. Sondern ich meine: Unsere Chance besteht darin, dass sich die gesellschaftlich Mächtigen niemals einig sind. Sie sind ja eine gigantische Zusammenrottung von Einzelegoismen, deren Bündnisse nicht länger halten als der Wert eines Aktienkurses.
Das führt dazu, dass sie nicht wirklich einheitlich auf unsere Aktionen reagieren. Es sind halt immer ökonomische oder einfach opportunistische Teilinteressen, aus denen heraus immer und immer wieder Widersprüche unter ihnen sichtbar werden. Unsere Aufgabe scheint mir, diese Widersprüche immer und immer wieder heraus zu fordern – indem wir immer und immer wieder den öffentlichen Diskurs anregen. Mit welchen Aktionsformen das geschieht, scheint mir nicht annähernd das Entscheidende.
Das Entscheidende scheint mir: dass wir uns nicht voneinander distanzieren, sondern eine bunte, widersprüchliche, kreative, unkalkulierbare, mal sympathische, mal ärgerliche, mal kompromissbereite, mal halsstarrige Bewegung sind. Unsere Vielfalt ist unsere Stärke. Erhalten wir diese Vielfalt – auch wenn wir dabei mit Aktionen identifiziert werden, mit denen wir nicht identifiziert werden wollen. Das sollten wir aushalten – um der Sache willen!
Oben bleiben! Martin Poguntke (Theologe gegen S21)
Ich würde mich freuen, wenn meine Gedanken weit verbreitet und breit diskutiert würden ...
1000 Dank für diese Worte! Auf dass sowohl die Einen als auch die Andern sie sich wirklich zu Herzen nehmen und danach handeln.
Vielen Dank für diese klaren Worte. Das ist es nämlich: unberechenbar sein und vielfältig kämpfen – und nicht wie das Kaninchen auf die Schlange starren, sondern die Schlange immer stören bis es ihr zu bunt wird. Wenn wir diese Vielfalt aushalten, dann sind wir auf dem richtigen Weg in unserem Widerstnd, der nicht nachlassen darf. Wir können mit viel Spaß und Sinn für Humor immer Oben Bleiben und nicht aufgeben. Wie hat Stephan Hessel gesagt: Machen sie immer weiter!
Danke für diesen wunderbaren Artikel!
Dass „Ausschließeritis“ nicht gut ist – eine Binsenweisheit. Dass es „die richtige“ Aktionsform nicht gibt – wer wollte das bestreiten?
Dass es aber nach Jahren des Protests Erfahrungen gibt, was eher nützt oder was eher unnütz oder gar kontraproduktiv ist, darüber zu diskutieren, kann nicht verkehrt sein. Ist strategisch nötig!
Eine von Martin Poguntke vorgegaukelte totale Wirkungskontingenz der Protestformen ähnelt der Vorstellung vom freien Spiel der Kräfte auf einem freien Markt, bei der unterstellt wird, es käme Gutes dabei heraus. Und einem „anything goes“ oder „laissez-faire“, das wohl aus anderen als gesellschaftskritischen Milieus stammt.
Hätte der Theologe gegen S21 statt des hohen Tremolos „Seid umschlungen, Millionen“ nicht eher den Choral anstimmen sollen „Verzage nicht, du Häuflein klein“?
Also keine Durchhalteparolen, vielmehr kluge Strategie! Keine „All-Erlösung“, vielmehr Klärung des Standortes und des weiteren Vorgehens.
Auffällig in Martin Poguntges Hohem Lied auf die „bunte, widersprüchliche usw.“-Bewegung: Achtmal ist von den „gesellschaftlich Mächtigen“ u.Ä. die Rede, nur einmal von dem „öffentlichen Diskurs“. Um den aber geht es! Richtiger: um die für diesen Diskurs, möglichst für den Protest, für andere Wertsetzungen in unserer Gesellschaft zu gewinnenden Menschen.
Sich an den „gesellschaftlich Mächtigen“ abzuarbeiten, zumal wenn sie als „eine gigantische Zusammenrottung von Einzelegoismen“ gesehen werden, ist wenig sinnvoll.
Der Diskurs muss nicht nur irgendwie „öffentlich“ geführt werden, sondern in und mit der Öffentlichkeit, also wieder mit den Menschen, die bisher gleichgültig oder irregeführt, angepasst oder resigniert sind.
Im Übrigen: Nach meinen Erfahrungen, z.B. an der Mahnwache, hat die Protestbewegung schon eine ganze Menge erreicht. S21 ist eine gesellschaftspolitische Marke, über Stuttgart, über Baden-Württemberg, über Deutschland hinaus. Mit der sollten wir selbstkritisch und klug umgehen.
…. endlich einmal die richtigen Worte zum Bekenntnis der gesellschaftlichen Vielfalt in der „Anti“-Bewegung. Meiner Meinung nach bewirken die jüngsten Animositäten einzelner Gruppierungen tatsächlich genau das Gegegenteil. Den „Mächtigen auf Zeit“ machen wir „uns“ damit zum Erfüllungsgehilfen. Es kann doch für die „Bewegung“ nicht erstrebenswert sein, kurz vor der Zielgeraden wegen interner Grabenkämpfe zur klammheimlichen Freude der „Macher“ sich kampflos zu ergeben. Untertänigst würde die kalkulierte Strategie der Verlogenheit gepaart mit Arroganz auf diese Weise unterstützt werden.
D’r Käs isch „no lang net“ gässe.
Das Ziel liegt bekanntermaßen am Ende der Zielgeraden und diese letzte zu überwindende Wegstrecke kann sehr lang sein, vor allem wenn man müde ist.
Es kommt also auf den einzelnen Standpunkt an, nicht auf den Standort der Demonstration. Der sollte sich nicht auf eingefahrene Pfade beschränken.
Deshalb mein Danke für den Aufruf Martin Poguntke.