Rede von Jürgen Schwab, Kirchenmusikdirektor, auf der 204. Montagsdemo am 30.12.2013
Stadtbahn-Chaos durch Stuttgart 21?
Die S21-Propagandisten behaupten seit Jahr und Tag, dass S21 den Verkehr in Stuttgart kaum tangieren würde. K21 hingegen würde unter rollendem Rad gebaut und massive Behinderungen nach sich ziehen. Die tägliche Realität entzaubert dieses Propagandamärchen: S21 lässt den S-Bahn-Verkehr regelmäßig kollabieren, der Autoverkehr staut sich mehr als je zuvor, Fußgängern und mobilitätseingeschränkten Menschen werden unzumutbare Umwege abverlangt und Fahrradwege werden rücksichtslos zerschnitten. S21 ersetzt das gesunde Herz des Verkehrs, nämlich den bestens funktionierenden Kopfbahnhof, durch ein wenig schlagkräftiges, minderwertiges Kunstherz. Schlimmer noch: die jetzt noch durchlässigen Gefäße (die Zulaufstrecken) werden dergestalt erneuert, dass Stockungen vorprogrammiert sind. Diese für Banken und Konzerne äußerst lukrative Transplantation droht jetzt weitere Arterien zu verstopfen, nämlich die der bisher tadellos funktionierenden Stadtbahn.
Lehrreicher Blick in die Geschichte der Stadtbahn und ihre Geburtsfehler
Die Brisanz dieser Feststellung untermauert ein kurzer Blick in die Geschichte unserer Stadtbahn. Die Stuttgarter Straßenbahn verfügte noch um 1960 in der Innenstadt über ein flächendeckendes, feingesponnenes Netz. Doch dann wurde die autogerechte Stadt zur Leitlinie. Die lästig gewordene Straßenbahn hatte zu verschwinden. An ihre Stelle sollte die angeblich zeitgemäße U-Bahn treten. Mehr als zwei Dutzend Straßenbahnlinien wurden obsolet – schon damals entwickelten die Tunnelparteien ihre neurotische Gleisphobie wie heute beim angeblichen Gleisschrott im Kopfbahnhof. Drei U-Bahnen, eine Längslinie, eine Querlinie und eine Diagonallinie hatten den Fahrgästen zu genügen. Diese Planung war nicht weniger überdreht als S21; zum Glück hat die Geschichte diesen größenwahnsinnigen Schwachsinn längst beerdigt. Aus der sternförmigen U-Bahn wurde die flächendeckendere Stadtbahn, eine moderne Version der Straßenbahn.
Trotzdem blieb der Geburtsfehler aus U-Bahnzeiten zementiert: in der Innenstadt existieren nur zwei nicht miteinander verbundene Stammstrecken, durch die alle Linien der Tallängs- und Querrichtung gezwängt werden. Hier liegt die Achillesferse des Systems, weitere Linien sind unmöglich – die Tunnels sind voll ausgelastet. Bei U-Bahn- und Stadtbahnsystemen ist aber gewöhnlich eine dritte Stammstrecke unabdingbar. Diese ist jedoch für immer verbaut, weil der einzig noch verfügbare Raum im Untergrund am Hauptbahnhof durch S21 blockiert wird. Ähnliches gilt auch für eine zweite S-Bahnstammstrecke, wie sie gerade in München gebaut wird.
Erwartbares Stadtbahnchaos durch Stuttgart 21
Richtig kritisch wird es aber, wenn man den Engpass der SSB in der Innenstadt auf dem Hintergrund der S21-Bauarbeiten betrachtet. Weil die Stadtbahn ursprünglich als echte U-Bahn konzipiert war, fehlen im Innenstadtbereich Weichenverbindungen der Längs- und Querlinien untereinander, es gibt bei den Querlinien keine Umleitungsmöglichkeit, bei den Längslinien nur eine mangelhafte über den Berliner Platz. Durch den Bau des Nesenbachdükers muss der Abschnitt Staatsgalerie-Hauptbahnhof aber jahrelang unterbrochen werden, die Strecke Staatsgalerie-Charlottenplatz zeitversetzt ebenfalls.
Egal wie die SSB dies löst – durch komplette bzw. halbseitige Sperrungen, durch unterschiedliche Linienverläufe in beiden Richtungen oder durch lästige zusätzliche Pendellinien 1B, 4B oder 9B – in jedem Fall ergeben sich Fahrzeitverlängerungen, überlastete Bahnsteige und zerrissene Linien (die U 4 kann nicht zum Hölderlinplatz durchfahren).
Der infarktgefährdete Berliner Platz kann niemals 5 Stadtbahnlinien, die Sonderlinie U 11 und zusätzliche Pendellinien aufnehmen. Großveranstaltungen wie das Volksfest werden im Chaos enden, weil die U-Haltestelle Hauptbahnhof dann 11 Linien mit dem entsprechenden Fahrgastaufkommen abwickeln müsste. Verspätungen werden sich unaufhaltsam hochschaukeln.
Wer aufgrund der S-Bahn-Malaise in die Stadtbahn umgestiegen ist, gerät vom Regen in die Traufe. Auch die Querlinien U 5-7, 12 und 15 werden regelmäßig betroffen sein. Fahrzeitverlängerungen bedeuten mehr Fahrzeuge und Fahrpersonal, Taktausdünnungen und so weiter. Wer bezahlt letztendlich dafür? Die SSB? Die Bahn? Die Kosten werden natürlich auf uns abgewälzt: Steuerzahler und Fahrgäste!
Bei K21 wäre die Stadtbahn in keinster Weise betroffen gewesen, bei S21 kosten alleine die Kreuzungen Stadtbahn/DB viele Hundert Millionen Euro; die Aussage der SSB, dass ihre durch S21 neu gebauten Tunnels fahrdynamisch besser seien, ist ein Witz. Wo bisher, etwa vom HBF zur Türlenstraße, nach einer moderaten Kurve eine hübsche Gerade gefahren wird, steht künftig eine Achterbahnfahrt auf dem Programm mit Kurven und starken Gefällen. Für die Kosten der nutzlosen Stadtbahnverlegungen hätte man locker die fehlende dritte Stammstrecke bekommen! Wozu das alles? Nur damit man den Tiefbahnhof irgendwie in einen Untergrund hineinwurstelt, der eigentlich mit zwei Stadtbahnröhren und einem S-Bahntunnel vollauf belegt ist! Und trotzdem überschreitet dieser Schiefbahnhof das erlaubte Gefälle noch um das Sechsfache!
Riskant geplante Stadtbahnkreuzung und Etikettenschwindel
Die Kreuzung der Stadtbahn mit den S21-Gleisen am Kurt-Georg-Kiesinger Platz unterhalb der ehemaligen Bahndirektion verdient genaueste Analyse. Die viel zu knappe Überdeckung zwischen den obenliegenden Tiefbahnhofsgleisen und dem darunter geführten neuen SSB-Tunnel verursacht gefährliche statische Risiken. Genau deshalb würde die Bahn gerne die verstümmelte, denkmalsgeschützte Bahnhofsdirektion komplett abreißen. Es wundert nicht, dass Bauleiter Hany Azer angesichts solch haarsträubender Pläne zurückgetreten ist. Eigentlich ist Hany Azer ja unerschrocken: er verlegte in Berlin schon mal die Spree wegen des neuen Bahnhofs. Inzwischen liegt unausgesprochen das Eingeständnis vor, dass diese Planung tatsächlich kriminell war.
Die SSB legt jetzt ihren Tunnel, zum Nachteil der Mineralwasserdeckschicht, 70cm tiefer. Die offizielle Begründung, geschickt lanciert an die Stuttgarter Nachrichten, ist raffiniert: man will angeblich die Korrosion vermindern, die in den Metallarmierungen der Betonbauteile ausgelöst wird durch die unterschiedlichen Stromarten der SSB (750 Volt Gleichstrom) und der DB (15 000 Volt Wechselstrom). Wenn die Planer das vorher nicht gewusst hätten, wären sie total inkompetent. Dieses lachhafte Argument ist nur vorgeschoben, um zu verschleiern, dass ursprünglich etwas Gemeingefährliches gebaut werden sollte.
Die SSB plakatiert an der besagten Stelle: „Wir bauen die neue U 12 ins Europaviertel“. Haben wir da etwas verpasst? Die U 12 fährt hier längst zusammen mit vier weiteren Linien. Die Stadtbahn dreht an dieser Stelle ihre Runden seit 1976! Ein Stuttgart-21-Bauwerk entsteht hier – nichts anderes! Ist es den Verantwortlichen peinlich, sich zu einer S21-Baustelle zu bekennen oder soll der Ärger der Bürger über S21 gebremst werden durch eine verlogene Umetikettierung zur SSB-Baustelle? Die neue Führung der U 12 durch das Neubauviertel hängt die BewohnerInnen des Pragfriedhofviertels ersatzlos ab zugunsten der Stadtbibliothek. Dabei ist diese nur wenige Meter von der neuerdings Stadtbibliothek genannten Haltestelle entfernt, die bisher Türlenstraße hieß!
Kulturelle Folgen von S21 – Kannibalisierung wichtiger ÖPNV-Vorhaben
Stuttgart hat etwas, worum uns Städte aus der ganzen Welt beneiden: eine echte Kulturmeile! Musikhochschule, Staatsgalerie, Staatstheater, Schauspielhaus, Landesbibliothek und Stadtbücherei waren aneinander gereiht wie eine Perlenschnur. Die Stadtbücherei hat man unnötiger Weise herausgerissen und für schlappe 80 Millionen in das langweilige S21-Viertel verpflanzt. Wenig mehr hätte die Elektrifizierung und Taktverdichtung der Schönbuchbahn gekostet: dafür hat das grün geführte Verkehrsministerium kein Geld mehr, für die Behebung der Kapazitätsprobleme schlägt man allen Ernstes die Entfernung von Sitzplätzen aus den Zügen vor, damit mehr Leute stehen können. Orientiert sich unsere Verkehrspolitik neuerdings an Entwicklungsländern?
Die in Aussicht gestellte Landesförderung für das Stadtbahnprojekt Markgröningen-Ludwigsburg-Remseck wird gekürzt, damit steht das Vorhaben bald vor dem Aus. Will man so 20% mehr Verkehr auf die Schiene bringen, wie OB Kuhn und seine Grünen vorschlagen? Wohin man schaut: der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs wird auch von Grün-Rot stiefmütterlich behandelt – Heidelberg wartet vergeblich auf Zusagen bezüglich der Straßenbahnverlängerung, die neue Linie von Basel nach Weil am Rhein endet gleich nach der Rheinbrücke usw. Aber in Stuttgart wurde auffallend geräuschlos die Verlängerung der U 6 zum Flughafen beschlossen! So wird ein nachrangiger Airport durch ICEs, ICs, Regionalzüge, S-Bahn und Stadtbahn weltrekordverdächtig übererschlossen! Man will offenbar die Leute mit aller Gewalt daran hindern, zum Frankfurter Flughafen mit der Bahn zu fahren.
Drei Fragen wirft diese perverse Umweltpolitik auf : 1. Soll die U 6 durch die Hintertür die mangelnde Leistung des S21-Fildermurkses kompensieren? 2. Werden hier weitere S21-Kosten unauffällig der SSB aufgeladen? 3. Welche Rolle spielt der bekennende S21-Fan und SSB-Vorstand Arnold, der eigentlich für das Wohl seiner SSB zuständig ist?
Leinfelden hat sich nämlich die viel wichtigere Verlängerung der U 5 gewünscht. Der Leinfeldener Bürgerschaft gewährt man zähneknirschend eine symbolisch um 400m verlängerte U 5 im 20-Minutentakt, damit sie endlich Ruhe gibt. Aber dorthin, wo die Leinfeldener gar nicht fahren wollen, nämlich zum Flughafen, fährt bald die U 6 alle 10 Minuten mit stolzen Doppelzügen! Man sieht: auch unter Grün-Rot wird in Baden-Württemberg die Verkehrsplanung in erster Linie S21 untergeordnet, der Rest muss sehen, wo er bleibt. Die Landesregierung versenkt also auch indirekt riesige Summen in das Faß-ohne-Boden-S21. Die geplanten Sperrungen bei der Stuttgarter Stadtbahn werden Kunden verprellen und zum Rück-Umstieg aufs Auto bewegen. Die vorhergesagte, immer wieder lautstark bestrittene Kannibalisierung der verfügbaren Mittel zugunsten des Schrottprojektes S21 ist in vollem Gange!
Forderungen an die Politik
Bisher hieß es, dass die Kreuzungsvereinbarungen der SSB mit der DB nur zu kurzen Stadtbahn-Sperrungen (z.B. an Wochenenden) führen würden. Das hätte man akzeptiert. Was jetzt droht, hat eine ganz andere Qualität. Wir müssen jetzt aktiv werden, um diese Katastrophe für den Verkehr in der Stadt abzuwenden. Ich fordere:
- Keine VVS-Fahrpreiserhöhungen, so lange die versprochene Leistung nicht erbracht wird.
S-Bahn-Chaos und jahrelange Stadtbahnstreckensperrungen rechtfertigen eher Fahrpreiserstattungen! SSB-Chef Arnold redet davon, dass die Dauer der Sperrungen nicht absehbar sei. - Bald ist Kommunalwahl! Es muss auf alle Fraktionen eingewirkt werden, langfristige Stadtbahnsperrungen zu unterbinden.
- Arbeitgeber und Einzelhandel, die an einem funktionierenden Nahverkehr interessiert sind, müssen sensibilisiert werden für die Problematik. Die mangelhafte Erreichbarkeit der Innenstadt führt zwangsläufig zu Ladenschließungen, Arbeitsplatzverlusten und Insolvenzen!
- Das von S21 verursachte S-Bahn-Chaos wurde korrekt vorhergesagt, man hat aber abgewiegelt. Dasselbe tut jetzt die SSB wieder mit inhaltsleeren Sprechblasen à la „jede Haltestelle wird immer angefahren“ – fragt sich nur wie, wie lange es dauert und wie umständlich das ist! Hier hilft nur anhaltender Druck auf die Verantwortlichen! Bahn und SSB müssen gezwungen werden, so zu bauen, dass die Stadtbahn nicht mehr beeinträchtigt wird, als bisher zugesagt. Der Bahn gehören ihre eigenen Gleise, nicht aber die Stadtbahntrassen. Die Bahn will nur S21-Mehrkosten auf andere Träger abschieben.
- Wir müssen Lokalpolitiker und die SSB pausenlos darauf hinweisen, dass wir diese Sperrungen nicht akzeptieren werden, z.B. durch Mails, Briefe, Telefonate u.v.a.m.
- Wie wäre es mit einer Unterschriftenaktion oder einem Bürgerbegehren zu diesem Thema?
Der versprochene Kostendeckel wurde gesprengt, Brandschutzstandards werden nicht eingehalten, beim Grundwasser wird getrickst und jetzt geht es auch noch gegen unsere Stadtbahn! Erneut überschreitet S21 eine rote Linie! Wir verzichten gerne auf ein sogenanntes Infrastrukturprojekt, das vor allem andere, bisher einwandfrei funktionierende Infrastruktur, wie die der SSB, nachhaltig schädigt!
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