Kann eine Gerichtsverhandlung auf Schwäbisch ernsthaft sein?

Im_Namen_des_Volkes?

Im Namen des Volkes? 

Prozessbericht + Foto: Wolfgang Rüter

Verhandlungen am Stuttgarter Amtsgericht sind bei S21-Verfahren für Angeklagte und Zuhörer oft schwer erträglich, haben sie doch ein anderes Rechtsverständnis. Dieses können sie auch entsprechend begründen – die Angeklagten beispielsweise in ihren stets hervorragenden und eindrucksvollen Einlassungen. Aber das scheint weder Staatsanwälte noch Richter zu interessieren; jedenfalls kann man diesen Eindruck gewinnen, wenn man Gerichtsverhandlungen in Stuttgart verfolgt. Warum das so ist, erschließt sich dagegen nicht.

Ein schon etwas zurückliegender Prozess am Dienstag, 19. November 2013 vor dem Stuttgarter Amtsgericht zeigt dieses Problem einmal mehr.
Der Aushang am Sitzungssaal 4 im Stuttgarter Amtsgericht weist drei Beschuldigte aus sowie den Richter Gauch. Der Saal ist mit rund 40 Zuhörer(inne)n voll. Die Anklage lautet auf Nötigung. Die Hauptverhandlung ist öffentliche, es sind vier Zeugen geladen.

Als der Richter die Verhandlung beginnt, sind alle ziemlich erstaunt. Er schwätzt schwäbisch und hat es offensichtlich eilig. Diese Erfahrung ist neu und sogar befremdlich, nicht nur für Nichtschwaben. Eine Gerichtsverhandlung auf Schwäbisch? Das lässt die Anwesenden sogar an der Ernsthaftigkeit eines so ablaufenden Verfahrens zweifeln, zumal der Richter versucht, sich kumpelhaft zu geben – gezielt oder unbewusst. Aber ein Strafverfahren ist eine ernsthafte Sache, und darauf hatten sich die Angeklagten ohne Verteidiger wochenlang vorbereitet.

Der Richter befragt die Angeklagten nach ihren Personalien. Im Anschluss wird der Strafbefehl verlesen, in diesem Fall von Staatsanwalt Fuchs. Der Strafbefehl lautet auf gemeinschaftliche Nötigung, bei der am 17.04.2012 früh morgens die Baustellenzufahrt zum Südflügel an der Straße Am Schlossgarten blockiert worden sein soll, weshalb zwei Lkw nicht zur Baustelle einfahren konnten. Die Demonstranten seien von der herbeigerufenen Polizei (POM S.) aufgefordert worden, die Baustelleneinfahrt freizumachen. Fünf Personen seien von weiteren hinzu gerufenen Polizisten weggeführt worden. Ihre Personalien wurden aufgenommen und sie erhielten einen Platzverweis. Beim Verlesen des Strafbefehls war Staatsanwalt Fuchs, ohne es zu bemerken, in eine andere Anklageschrift geraten. Dies fiel allerdings dem Richter kurz darauf auf. Er machte den Staatsanwalt darauf aufmerksam, der sich korrigierte und damit schloss, dass ab 6:40 Uhr die Einfahrt zur Baustelle wieder möglich war.

Alsdann wurden die Angeklagten von Richter Gauch nach Beruf, Einkommen, Schulden und Lebensverhältnissen befragt. Von jedem Einzelnen wollte er außerdem hören, ob es zuträfe, dass sie an dieser Blockade teilgenommen haben. Dem Angeklagten H. gab er zudem die Möglichkeit, drei Beweisfotos vorzulegen. Diese sah man sich dann gemeinsam an. Ebenso durften sie ein Beweisvideo zeigen, das H. auf seinem eigenen Laptop vorführte, bevor der Richter dann zügig den ersten Zeugen in den Saal rief. Die Möglichkeit, ihre Einlassungen zur Motivation und zur Sache vorzutragen, gewährte der Richter den Angeklagten zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Erster. Zeuge K., damals Lkw-Fahrer und inzwischen Schädlingsbekämpfer, war seinerzeit frühzeitiger als vorgesehen vor Ort, um dort Bauschutt abzuholen. Deshalb wartete er mit seinem Lkw auf dem Vorparkplatz, wo er keine Demonstranten gesehen habe. Er könne die damalige Situation nur dürftig beschreiben und sich auch nicht mehr genau an alles erinnern. Das sei schon zu lange her. Seine damalige Aussage habe er nicht mehr im Kopf.

Bei Fragen der Angeklagten reagierte Fahrer K. recht ungehalten und hätte deswegen, nach Ansicht der Zuhörer im Saal, vom Richter gerügt gehört, was aber nicht geschah. Stattdessen wurde eine Zuschauerin scharf gerügt, die sich über die Untätigkeit des Richters empört hatte. Er, der Fahrer, habe damals ca. zwei Stunden wegen der Demonstranten warten müssen und „an diesem Tag schon einen Hals gehabt“. Dann habe er noch eine Panne gehabt. Das sei für ihn kein guter Tag gewesen. Mit einer Unterschrift des Richters auf seine Vorladung verließ er bruddelnd den Saal.

Zweiter Zeuge S., Lkw-Fahrer des zweiten Lkw, sei ebenfalls zum Bauschutt abholen vor Ort gewesen. Er habe ebenfalls warten müssen, da das Tor zur Baustelle noch verschlossen war, weil vor 7:00 Uhr sowieso nicht gearbeitet worden wäre. Er sei im Führerhaus sitzen geblieben und habe von dem Drumherum weiter nichts gehört. Dann seien Leute gekommen, Demonstranten. Ca. 45 Min. sei seine Wartezeit gewesen, lt. Protokoll. Sein Chef, den er angerufen hatte, hätte gesagt, dass er ruhig bleiben solle. Die Polizei würde schon alles regeln.

Dritter Zeuge S., Polizeihauptmeister (POM), sei mit seiner Kollegin B. im Streifenwagen als Erste vor Ort gewesen, nachdem er den Auftrag bekommen hatte, zum Südflügel zu fahren. Dort würde ein Lkw gestoppt/blockiert werden. Es seien sechs Leute gewesen, die er um 6:30 Uhr aufgefordert habe, den Lkw einfahren zu lassen. Eine zweite Ansprache zum Weggehen habe er um 6:33 Uhr ausgesprochen. Wenn diese nicht befolgt werde, würden sie weggeführt bzw. weggetragen. Eine Person sei daraufhin weggegangen und nicht wiedergekommen. Weitere, nicht blockierende Personen seien auf der anderen Straßenseite gestanden. Die Blockierer seien anfangs gestanden, hätten sich dann aber hingesetzt und das sei damit (für ihn) Nötigung gewesen. Das habe er ihnen auch erklärt. Insgesamt sei alles „absolut friedlich“ zugegangen. Die fünf Personen seien nach Aufforderung mit den hinzu gerufenen weiteren Polizeikräften mitgegangen, keiner musste weggetragen werden.

Vierter Zeuge H., Polizeihauptkommissar (PHK), trat im Zeugenstand in Uniform auf. Er sei von POM S. (dritter Zeuge) zum Einsatzort gerufen worden. Nach seinem Eintreffen habe er von ihm die Einsatzleitung übernommen. Für ihn habe es sich um keine Versammlung gehandelt. Er habe das Geschehen nicht als Demonstration bewertet, weil es zuvor kein neues (S21-) Ereignis gegeben habe, das dies, seiner Meinung nach, hätte rechtfertigen können. Es sei an diesem Tag einfach eine reine Blockade gewesen.

Diese Auffassung war für die Angeklagten nicht nachvollziehbar. Nach der sogenannten Stuttgarter Richtlinie seien bisher stets drei Ansprachen notwendig gewesen, entgegneten sie. Warum also sei es hier nicht so gewesen? Darauf der Richter: Hier gehe es um einen Straftatbestand, nicht um Demonstrationsrecht. Es wäre eine Straftat begangen worden!

Damit war die Beweisaufnahme zu Ende und Staatsanwalt Fuchs kam zu seinem Strafantrag. Dieser hätte sich bestätigt. Die Zufahrt zur Baustelle sei blockiert worden. Die Angeklagten hätten sich mit dem Hinsetzen der Nötigung strafbar gemacht. Es sei keine Demonstration gewesen. Die Angeklagten hätten ganz bewusst blockiert. Die Lkw sollten nicht zur Baustelle einfahren können. Der Fahrer des ersten Lkw könne nicht einsehen, dass er zum Objekt einer Demonstration gemacht werden solle. Zugute käme den Angeklagten, dass sie allesamt friedlich gewesen seien und sich keiner habe wegtragen lassen. Für H. beantrage er, auch wegen eines anderen Verfahrens, 30 Tagessätze je 50 € und für die beiden anderen je 20 Tagessätze je 50 € bzw. mindestens je 25 €. Zudem seien den Angeklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Erst jetzt durften die Angeklagten ihre Einlassungen vortragen. Sie begründeten ihre individuellen Motive und legten dar, weshalb sie gegen das Projekt Stuttgart 21 demonstrieren. Unter anderem seien sie auch sehr verwundert darüber, dass bei allem, was bisher an Unwahrheiten und Täuschungen seitens der Projektbetreiber ans Tageslicht gekommen sei, von der Stuttgarter Staatsanwaltschaft nicht einmal ein Anfangsverdacht wegen dieser Tatsachen erhoben wurde. Hier werde ohne Genehmigungen gebaut und eine Stadt zerstört, oder die Leistung eines gut funktionierenden Bahnhofs trotz anderweitiger Aussagen seitens der Bahn zurückgefahren. Dies alles hörten sich Staatsanwalt und Richter geduldig an, wobei die Zuhörer nicht den Eindruck hatten, als würde dies bei der Urteilsfindung und im Strafmaß berücksichtig werden. Im Gegenteil, sie hatten den Eindruck, dass das Urteil bereits feststehen würde. Alle drei Angeklagten plädierten auf Freispruch, da sie ihrer Auffassung nach keinesfalls eine Straftat begangen hätten, sondern nur ihr Demonstrationsrecht ausgeübt haben.

Das Urteil von Richter Gauch „im Namen des Volkes“ war dann sogar schärfer als der Antrag des Staatsanwalts: 30 Tagessätze je 50 € für H., 30 Tage je 50 € für R. und 20 Tage je 25 € für S. Dem Angeklagten R. gab Richter Gauch noch mit auf den Weg, dass es sich bei Stuttgart 21 um ein nützliches, in aller Interesse liegendes Infrastrukturprojekt handle und sein Zustandekommen nicht mit Stasimethoden bzw. -machenschaften verglichen werden könne. Eine solche Äußerung muss als äußerst fragwürdig angesehen werden, zumal damit gezeigt wird, dass er ein Befürworter von S21 ist.

Wäre es bei den Angeklagten zu einem früheren Verhandlungstermin gekommen und hätten sie den zwischenzeitlich in den Ruhestand gewechselten und zunächst vorgesehenen Richter D. gehabt, wäre das Urteil wohl anders ausgefallen. Seine Niederschriften in der Gerichtsakte zeigten, dass sehr wohl das Demonstrationsrechte der Angeklagten und ihre Motivation berücksichtigt worden wären.

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6 Antworten zu Kann eine Gerichtsverhandlung auf Schwäbisch ernsthaft sein?

  1. martin mueller sagt:

    Ja es ist schade , das selbst die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung verloren haben. Wir haben hier in Stuttgart italienische Verhältnisse und ganz Europa sieht zu, ob Den Haag oder Brüssel.Wir werden jahrzehnte lange Demos führen müssen , bis der Filz einigermaßen aufgeweicht sein wird. Die straffälligen Verantwortlichen werden dann zu alt sein ( wie es bei Berlusconi der Fall ist ) , um zur Rechenschaft gezogen zu werden.

  2. behrendt sagt:

    ich glaube den richter hatte ich auch. die verhandlung ging sehr rasch der richter hat mich mit seiner schnelligkeit überfahren.
    und so muss ich ne strafe zahlen da ich nichts verbrochen habe.
    demoschlampe

  3. Solche Richter brauchen wir, damit man erkennt, wie fragwürdig das ganze Katastrophen-Projekt 21 ist. Wenn ein Richter jetzt noch behauptet, dass es sich „um ein nützliches, in Aller Interesse liegendes Infrastrukturprojekt handle“, dann muss man an seiner Informationsfähigkeit zweifeln.

  4. Gast sagt:

    „Stets hervorragend und beeindruckend“ – als Debattenbeitrag vor Gleichgesinnten vielleicht, bei Gericht dagegen keinesfalls, da in juristischer Hinsicht in aller Regel Blödsinn.

  5. Pingback: IO-Newsletter 08.12.2013: Verkehrs- und sonstige Behinderungen | InfoOffensive Baden-Württemberg

  6. Michael sagt:

    martin mueller

    Die Gerichte haben m.E. nicht das Vertrauen der Bevölkerung verloren.

    Was sollte denn zu solchen Verallgemeinerungen berechtigen?

    Was sollen denn konkret italienische Verhältnisse sein?

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