Rede von Prof_in. Dr_in. Yvonne P. Doderer bei der 180. Montagsdemo am 15.7.2013
„Recht auf Stadt“
Liebe Bürgerinnen, liebe Mitstreiter_innen gegen Stuttgart 21,
auch heute noch meinen viele, es ginge bei Stuttgart 21 nur um einen Bahnhof. Dabei ist der geplante Tiefbahnhof mit einem Flächenverbrauch von weniger als einem Drittel der Gesamtfläche von Stuttgart 21 nur der klebrige Zuckerguss eines innerstädtischen Immobiliengeschäfts.
Und bereits heute können wir besichtigen nach welchem Rezept und mit welchen Zutaten hier eine Stadt zusammen gebacken wird. Die Ergebnisse sind so aufgeblasen, geschmacklos und hohl wie die süßen Stückle aus der Billigbackwaren-Fabrik!
Apropos süße Stückle: gleich am Anfang des Weges zu der stadtgestalterischen Vorhölle namens Europaviertel befindet sich eine Backwarenverkaufsstelle. Über der Ladenfront hängt ein Schild mit japanischen Schriftzeichen. Übersetzt steht da: Tod durch Überarbeitung!
Wer könnte damit gemeint sein? Sicher nicht die Architektinnen und Stadtplanerinnen, die sich im Rahmen von Stuttgart 21 verwirklichen!
Gemeint sind hier wohl eher die hart arbeitenden Banker, die sich so engagiert um die Verschwendung – pardon: Verwendung – unserer Steuergelder kümmern. Vom Ergebnis dieser Arbeit haben Sie sicher gehört: allein im Nordbahnhofviertel mussten über 1.200 Wohnungen an eine Wohninvestmentfirma verkauft werden.
Und solche Unternehmen zögern nicht die Einwohnerinnen durch überflüssige Modernisierungen, Mieterhöhungen und Wohnungsverkäufe aus dem Viertel zu drängen – im Soziologendeutsch nennt man dies „Gentrifizierung“. Doch wenn es darum geht eine Stadt des Fortschritts, der Modernität und der Nachhaltigkeit zu entwickeln – wie sie beispielsweise der frühere OB und Professor eines Stuttgarter Instituts für Stadtzerstörung fordert –, dann können wir nicht nur auf die Banker vertrauen! Deshalb gehen wir als echte Realpolitikerinnen auch jedes Jahr auf die MIPIM nach Cannes, diese tolle Immobilienmesse! Denn da treffen wir die Vertreterinnen von Investmentfonds, Projektentwicklungs- und Baugesellschaften! Nur die haben das nötige Kapital, um aus der Stadt eine Ware zu machen, die möglichst viel Rendite und Gewinn erzielt!
Dass eine Stadt nicht aus Untoten, sondern aus lebenden Menschen, aus deren Geschichte und ihren Geschichten besteht, kümmert uns dabei nicht weiter!
Und damit sich unsere neue Stadt auch wirklich gut verkauft, bauen wir mittelmässige Investorenarchitekturen und garnieren das Feld mit einer attraktiven städtischen Bildungseinrichtung. Deren Architektur und Gestaltung erinnert uns dann regelmässig daran, dass Selbstmord aufgrund von Lern- und Leistungsdruck die häufigste Todesursache unter südkoreanischen Kindern und Jugendlichen ist.
Und weil wir weitsichtig und zukunftsorientiert sind, machen wir aus der Stadt ein riesiges Einkaufszentrum, eine einzige Shopping-Mall – und verbinden Kommerz, Kultur und Konsum zu einem großen Spektakel!
Doch Achtung: Unerwünschte Einwohnerinnen werden des Platzes verwiesen! „Pacification by Cappucino – Befriedung durch Cappucino“ nennt die Soziologin Sharon Zukin das! Denken Sie nur an den Pavillon vor dem Königsbau! So werden öffentliche Räume privatisiert!
Womit wir wieder beim Bahnhof angelangt wären: dieser Bahnhof gehört ja der Deutschen Bahn Aktiengesellschaft. Und eine Aktiengesellschaft ist eine privatwirtschaftliche Unternehmensform, auch wenn das Geld von uns kommt. Und weil die Deutsche Bahn zwar nicht materiell, aber eben formell, als AG, privatisiert ist, muss sie sich von der Öffentlichkeit auch nicht in die Karten schauen lassen. Das war ja bereits die Krux in der Schlichtung!
Und weil das so gut funktioniert, haben wir das auch schon längst mit der Stadt gemacht!
Die Stadt ist ein Konzern!
Sie glauben mir nicht? Dann schauen Sie in die jährlich erscheinenden Beteiligungsberichte beispielsweise der Stadt Stuttgart! Lesen sie die Bilanzen der privatisierten städtischen Dienstleistungsbetriebe, denn mehr erfahren Sie nicht!
Und weil wir immer weniger Ein- und Durchblick haben in diesem Gestrüpp an Unternehmen, können wir nur noch Fragen stellen, liebe Bürgerinnen und liebe Mitstreiterinnen: Zum Beispiel warum selbst in einer wohlhabenden Stadt wie Stuttgart immer mehr Einwohnerinnen inzwischen 30, 40 oder sogar 50 Prozent ihres Einkommens für ein Dach über dem Kopf ausgeben müssen; warum jedes Jahr die Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr steigen; warum Straßen und Gehwege zerfallen; warum Kinder nicht von ordentlich bezahlten Fachkräften betreut werden oder warum die Etats von gemeinnützigen Kunst- und Kultureinrichtungen, die seit Jahren nicht mehr erhöht wurden, gekürzt werden?
Wir können auch fragen: für wen sind Gesetze wie das im Jahr 2007 von der Bundeskanzlerin unterzeichnete „Gesetz zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung der Städte“ oder das dieses Jahr in Kraft getretene Mietrechtsänderungsgesetz gemacht und wem nützen sie tatsächlich?
Und wir können weiter fragen, warum so genannte Finanzkrisen die Gier nach noch mehr Profit nicht stoppen können; warum ein ganzes Land wie zum Beispiel Portugal, das schon immer alle EU-Auflagen erfüllt hat, um 1,5 Milliarden Euro betteln muss, während allein in Stuttgart bereits im Vorfeld 6,5 Milliarden Euro verbuddelt werden; warum das Geschäft mit Grund und Boden, mit Immobilien und Großprojekten schon längst wieder boomt – und dies nicht nur in Stuttgart, sondern rund um den Globus, von Europa bis nach Vietnam!
Auch der von vielen so tapfer geführte Kampf um Demokratie, Mitbestimmung und Freiheit in der Türkei entzündete sich nicht zufällig an der geplanten Zerstörung des Gezi-Park in Istanbul. Diese Planung war nur die Spitze eines Eisbergs jahrelang betriebener Stadtzerstörung und Verdrängungspolitik, um Istanbul zu einer Destination für das internationale Finanzkapital auszubauen. Und dass man sich in einer Stadt bewegen können muss, dass man dazu einen erschwinglichen öffentlichen Nahverkehr braucht, wissen nicht nur viele Einwohnerinnen von Megastädten wie Rio de Janeiro oder Sao Paulo, sondern dies erfahren wir auch hier. Die Raumfrage ist eine Machtfrage: wem gehört die Stadt? Wer bestimmt über ihre Entwicklung und ihre Zukunft?
Wenn wir diese Fragen nicht den verbündeten Eliten aus Politik, Wirtschaft, Medien und Halbwelt überlassen wollen, die ja anscheinend soviel besser wissen, was gut für uns und in unserem Interesse ist, dann sollten auch wir in Stuttgart unser „Recht auf Stadt“ einfordern.
Ein „Recht auf Stadt“ haben die vielen Stadtbewohnerinnen überall auf der Welt, die kein Dach über dem Kopf haben, keinen Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen wie sauberes Wasser und die mit Zwangsräumungen und teilweise brutaler Gewalt aus ihren Wohnungen, ihren Häusern und von ihrem Land vertrieben werden. Diese existentielle Not betrifft auch immer mehr Menschen in Europa, in Deutschland und selbst in unserer Stadt. Über angemessenen Wohnraum zu verfügen ist aber ein anerkanntes Menschenrecht! Auch deshalb sollten wir als Bewegung gegen Stuttgart 21 uns in aller Deutlichkeit hinter Mieterinitiativen wie die im Nordbahnhofviertel stellen!
„Recht auf Stadt“ ist auch ein Ausdruck für das Verlangen danach, was das Leben in der Stadt, was städtische Kultur und Zusammenleben ausmacht – nämlich bauliche, soziale, kulturelle und ökonomische Vielfalt anstelle von Eindimensionalität und einem vordergründigen Konsens, der nur den Interessen der Eliten dient. Denn eine Stadt, die ihre Geschichte verleugnet und ihr Erbe zerstört, eine Stadt, deren Entwicklung anstelle auf echter Teilhabe auf Entdemokratisierung basiert, eine Stadt, die nur dem Konsum und der Rendite dient, eine Stadt, die keine erschwinglichen Wohnungen offeriert; eine Stadt, die kaum Freiräume bietet für die Entfaltung einer Zivilgesellschaft und einer kritischen Öffentlichkeit – eine solche Stadt ist weder eine Stadt der Zukunft – noch hat sie eine Zukunft als Stadt!
Liebe Bürgerinnen, liebe Mitstreiterinnen: Es wird uns nicht viel helfen allein auf schwarze, grün gestrichene oder rot lackierte Politikerinnen zu hoffen! Nehmen wir uns ein Vorbild an anderen Städten und bilden wir jetzt ein breites Bündnis, um uns gegen den Ausverkauf unserer Stadt zu wehren und unser Recht auf Stadt einzufordern!
In diesem Sinne: oben bleiben!
hier wird es noch mal aufgezeigt.
Die Privatisierung ist die Voraussetzung, BürgerInnen die Information vorzuenthalten,
wozu ihre Steuergelder verwendet werden
um so jegliche Mitbestimmung, Einwand oder Kritik zu erschweren bis zu verunmöglichen.
Durch die Privatisierung sind AG´s nicht mehr verpflichtet, der Öffentlichkeit nachzuweisen, wie sie die Gelder verwenden, die sie von eben dieser Öffentlichkeit erhalten.
Zahlen und still sein heißt das für uns.
Mit denken und mit bestimmen im Sinne einer Demokratie ist erst wieder möglich wenn diese Privatisierung wieder rückgängig gemacht wird.
Dies offen auszusprechen muss ein ziemliches Tabu sein, wenn es noch nicht mal in der Schlichtung thematisiert wurde.
Das „breite Bündnis“ sollte eine strategisch klare Wahlempfehlung für den 22.9. machen.
Das Kreutzchen auf dem Wahlzettel ist das Einzige, was Politiker noch ernst nehmen.
Rainer: welches „breite Bündnis“ sollte das denn nun sein?
Friedrich: Diese Frage müsste an Frau Prof. Doderer gestellt werden, die das „breite Bündnis“ vorschlägt.