Rede von Dr. Michael Wilk auf der Samstagsdemo am 15.6.2013
danke für die erneute Einladung. „Stuttgart 21 ist überall“ ist das richtige Motto. Es ist notwendig, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, sich zu vernetzen und gemeinsam mit anderen Initiativen zu wachsen.
Ich bringe Grüße vom Widerstand am Frankfurter Flughafen und aus der Anti-AKW-Bewegung. Und aus aktuellem Anlass auch Grüße von den Blockupy-Protesten in Frankfurt vor zwei Wochen …
An dieser Stelle ein besonderes großes Lob an die mehrere hundert Menschen aus Stuttgart, die sich in einem Sonderzug nach Frankfurt begaben, um mit uns gemeinsam gegen eine Krisenpolitik demonstrierten, die Banken und Konzerne schützt und europaweit Menschen ins Elend und den Ruin stürzt.
Wir mussten erleben, wie dieser Tag zu einem weiteren düstern Beispiel deutscher Polizeigewalt wurde: Hunderte von verletzen Menschen durch Pfefferspray, über viele Stunden eingekesselte DemonstrantInnen und ein durch die Obrigkeit ausgehebeltes Demonstrationsrecht. Als Begründung für den Polizeieinsatz bemühte die Politik einerseits die orwellsche Wortschöpfung der „passiven Bewaffnung“, bestehend aus Sonnenbrillen, Halstüchern und Regenschirmen, andererseits natürlich die altbekannte Bezeichnung als gewaltbereite Demonstranten/Demonstrantinnen. Wir jedoch wissen, dass diese typische staatliche Definition von Gewalt einer Überprüfung durch den gesunden Menschenverstand nicht standhält: Gewalttäter sind diejenigen, die Hunderttausende von Menschen durch Fluglärm quälen, Generationen das Risiko hochgiftigen Atommülls aufbürden, Städte nach den Maximen von Profit und Umsatz ruinieren Wir sagen: Kriminell sind nicht die, die Banken blockieren, einen Bauplatz besetzen, sondern diejenigen, die mit brutaler Skrupellosigkeit Projekte durchsetzen, um sich und einigen anderen die Taschen zu füllen.
Die Strategie des hessischen Innenministers und der Polizeiführung in Frankfurt ging gründlich daneben. Tausende Menschen, soziale Initiativen, MigrantInnen, GewerkschaftlerInnen, FlughafenkritikerInnen und auch ihr von Stuttgart 21, solidarisierten sich mit den im Kessel eingeschlossenen. Selbst die Medien, Presse, Funk und Fernsehen, zum Teil selbst mit Schlagstock und Pfefferspray traktiert, berichteten kritisch über die Staatsorgane.
Ich kann versichern, dieser, wie auch Einsätze die auch ihr schon erleben musstet, werden nicht dazu führen uns zu demoralisieren – im Gegenteil: wir sind gekommen um zu bleiben, weiterzumachen und genau da anzusetzen, wo es der etablierten Politik so richtig weh tut.
Es ist die Skrupellosigkeit der Wachstumsideologie, die uns Großprojekte wie S21 oder auch Flughäfen beschert, die viele notgedrungen plötzlich wachwerden lässt und im Protest auf die Straße treibt. Auch so manche, die zuvor durchaus die beschauliche Existenz eines friedlichen Konsumbürgers geführt haben.
Dumm gelaufen. Es ist das passiert, was institutionalisierte und parteilich organisierte Herrschaft fürchtet: Menschen beginnen, eigenständig zu denken und zu handeln. Und nun werdet ihr uns nicht mehr los!
Wir brauchen keine Entscheider-Elite, die arrogant und machtbesessen Phrasen von notwendigen Großprojekten kloppt – die notwendig seien um Wachstum und Wohlstand zu sichern – wir wissen, dass damit nur das Wachstum ihres Wohlstands gemeint ist.
Unsere Gesellschaft klafft mehr und mehr auseinander, einige wenige werden immer reicher, weitaus mehr aber immer ärmer. Die Maxime der Gewinnmaximierung hat zu tiefen Rissen im sozialen Gefüge geführt. In diesen Rissen gedeiht Widersprüchliches, Gutes und Negatives.
Einerseits wachsen Misstrauen und Zweifel, durchaus positiv gepaart mit kreativem Aufbegehren; es wachsen soziale Bewegungen mit emanzipativen Zielen – auch wir stehen hier aus diesen Gründen. Aber es wächst auch bei vielen die Sorge vor sozialem Absturz, Verzweiflung, Hilflosigkeit und Angst – und mit ihr der Nährboden für Ausgrenzung, Chauvinismus und Rassismus. Angst vor sozialem Absturz lässt sich leicht emotional hochrüsten und verbiegen. Das dumpfbackige deutsche „Wir-Gefühl“ wird propagandistisch hochgepuscht und mobilisiert: Gegen die faulen Griechen, denen wir den Arsch retten, die Asylanten, die nur unser Geld wollen, aber auch unsere eigenen arbeitsscheuen Hartz4-er. All das lenkt so wunderbar davon ab, dass Milliarden Euro verzockt wurden, und wir die Zeche zahlen sollen.
Doch wir machen genau das nicht mit: Wir werden uns die Herrschaftsphilosophie der Konkurrenz, des Nationalismus, der Ausgrenzung, der Ellenbogengesellschaft und des Egoismus nicht zu Eigen machen.
Im Gegenteil. Über den Protest gegen die einzelnen Projekte hinaus entwickeln wir eine soziale Gegenkultur: Wir setzen auf gemeinsame Lernprozesse, Handeln in eigener Verantwortung und solidarischen menschlichen Umgang. Wir haben keine Hornhaut auf der Seele wie so viele PolitikerInnen, wir unterliegen nicht der fulminanten Anpassungsdynamik politischer Parteien, die kaum gewählt, dem Zweckpragmatismus frönen und nur noch dem Machterhalt verpflichtet scheinen. Die Erfahrung zeigt: Sozial-ökologische Ziele müssen gegen Politiker durchgesetzt werden. Wir setzen nicht mehr auf Parteien, sondern auf Selbstorganisation, unsere eigene Kraft und Stärke.
Wir sind zäh, wir weigern uns tatenlos zuzusehen, wir sind aktiv und stellen uns quer. Tausende rücken Montags im Frankfurter Flughafen den Betreibern auf die Pelle, Tausende stehen nach wie vor ungebrochen im Protest gegen S21. Ende April wurde von uns das AKW Neckarwestheim 2 blockiert, gefahrentechnisch vor den Toren dieser Stadt gelegen, munter weiterlaufend unter der Grün/Roten Landesregierung.
Nur kurz und knackig an dieser Stelle: Wir weigern uns über Lagerstätten für hochgiftigen, Jahrtausende strahlenden Atommüll zu diskutieren, solange ihr Wahnsinnigen die AKWs weiterlaufen lasst, jeden Tag neues atomares Gift erzeugt und AKWs exportiert. Wir fordern Abschalten sofort, wir fordern Obenbleiben, und den Ausbaustopp von aufgezwungenen Großprojekten! (Hinweis: 25.-29. Juli, 3. Europäisches Forum gegen unnütze, aufgezwungene Großprojekte in Stuttgart)
S21, Flughäfen, AKW, die Zerstörung der Städte und Deklassierung von Menschen sind Beispiele eines grundsätzlichen Konflikts: Wer verfügt wie über Land, Natur, Geld, Macht und Wohlstand?
Beim Blick über die Grenzen eigener oder auch lokaler Betroffenheit offenbart sich andernorts ein noch viel grauenhafteres Szenario: Ausbeutung und tödliche Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie, Rüstungsgeschäfte, Nahrungsmittelspekulation, Privatisierung von Trinkwasser, Vertreibung von Menschen und eine oft tödliche Migrations- und Abschiebepolitik. Ausgehend von unserem Alltags- und Lebenshorizont, ist es fast unmöglich die herrschenden existenzbedrohenden Lebensumstände vieler anderer Menschen wirklich nachzuvollziehen.
Jeder von uns kennt die Hilflosigkeit angesichts medialer Berichterstattung, bei der uns lediglich die Extremfälle täglichen Horrors erreichen: angeschwemmte tote Flüchtlinge auf Lampedusa oder 1500 Tote in einer Kleiderfabrik, die vor allem unsere Kleidermärkte versorgte.
Was tun gegen eine Herrschaftsstrategie, deren Ziel es ist, Kapital- und Warenströme sicherzustellen, für die Menschen letztlich nichts anderes sind als Manövriermasse im Kreislauf von Konsum und Ausbeutung?
Blockupy blockierte nicht nur die Europäische Zentralbank, sondern u.a. Kleider-Ladenketten, die unter menschenverachtenden Bedingungen produzieren lassen. „Eure Mode ist so fesch – wie der Tod in Bangladesch“ schallte die Parole über die Frankfurter Zeil. Polizei schritt ein, dennoch ließ ein Großteil der Klamottenläden die Gitter herunter und musste auf den Umsatz verzichten.
Es ist klar, dass dieses Beispiel einer direkten Aktion nicht die Lösung ist – aber vielleicht ist es ein Anfang. Bringen wir die gut funktionierende Herrschaftsmechanik, sonst geschmiert durch naive Gutgläubigkeit, freiwilligem Gehorsam und Akzeptanz, ins Stocken.
Wir stehen hier und sie nehmen uns war.
Wir protestieren und sie versuchen es auszusitzen.
Sie diffamieren uns.
Wir entziehen ihnen den freiwilligen Gehorsam und die blinde Akzeptanz.
Sie schicken Wasserwerfer.
Wir aber sind gekommen um zu bleiben.
Sie schicken Geißler und veranstalten Mediationsrunden.
Sie halten Wahlen ab und versprechen viel.
Wir sind trotzdem noch da und glauben nichts.
Das ist gut.
Unser Protest und unser Widerstand sollte respektvoll sein gegenüber unseren Mitmenschen, aber durchsetzungsstark, kreativ und selbstbestimmt. Vielleicht bleiben wir dabei notwendigerweise nicht immer legal, aber wir handeln immer legitim. Wir sind gefordert, an einem Umbau der Gesellschaft zu arbeiten, in der Mensch und Natur zählt und nicht Ausbeutung, Vernutzung und Profitmaximierung.
Es geht eben nicht nur um Ökologie und Soziales bei uns. Es geht darum, ob wir menschenfeindliche Herrschaftsverhältnisse in diesem Land, in Europa, ja weltweit unwidersprochen lassen.
Es ist notwendig deutlicher zu werden.
Es ist notwendiger noch entschlossener zu sein.
Es ist notwendig vom Protest zum Widerstand überzugehen.
Redetext als PDF - bei der Mahnwache in gedruckter Form erhältlich