Rede von Albrecht Müller bei der Großdemo am 15.6.

Rede von Albrecht Müller, Planungschef im Bundeskanzleramt bei Helmut Schmidt und Willy Brandt; heute: Herausgeber der www.nachdenkseiten.de, auf der Samstagsdemo am 15.6.2013

Albrecht Müller ©weiberg (1)Stuttgart 21 ist überall – wehrt euch, vernetzt euch!

Liebe Freundinnen und Freunde von K 21, liebe Demokraten, verehrte Damen und Herren,

wie sich die Bilder und die Taktiken gleichen: Bevor der türkische Ministerpräsident Erdogan in den letzten Tagen ein Referendum ins Spiel gebracht hat, hatte er die Demonstranten in Istanbul wissen lassen: „Ihr könnt machen, was ihr wollt. Die Entscheidung ist gefallen.“ „Für mich ist die Entscheidung gefallen. Es gibt kein Zurück mehr“, hatte auch der baden-württembergische Ministerpräsident gesagt.
Sie machen einfach weiter,

  • obwohl das Projekt so teuer geworden ist, dass selbst die Betreiber des Bahnhofs ihn nicht mehr für rentabel halten.
  • Obwohl seine Leistungsfähigkeit keineswegs den Versprechungen entspricht.
  • Obwohl hohe Risiken für Leben und Gesundheit der künftigen Nutzer des unterirdischen Bahnhofs bekannt sind.

Sie machen einfach weiter – das ist mit Vernunft nicht zu erklären, das hat ein Gschmäckle, würden Sie hier in Stuttgart sagen.

Auch die Weisung des Bundeskanzleramtes an die Vertreter des Bundes im Aufsichtsrat der Bahn AG, beim Projekt Stuttgart 21 nicht zu wackeln, ist vom gleichen Geist beseelt wie der Spruch des türkischen Ministerpräsidenten. Ihr könnt machen was ihr wollt, das Projekt kann so fragwürdig sein, wie es will, uns berührt das nicht. Wir zeigen Härte und Durchsetzungsvermögen. Härte ist populärer als Einsicht. In Lächeln eingepackter Starrsinn kommt besser an als Vernunft. So denkt Frau Merkel offensichtlich. Wir sind heute hier, um diesem zynischen Kalkül zu widersprechen.

Wenn wir sagen „Stuttgart 21 ist überall“, dann meinen wir große Bauprojekte wie auch andere politische Entscheidungen, die von der neoliberalen Ideologie getrieben sind und wichtige gesellschaftliche Einrichtungen und unser Zusammenleben betreffen. Sie werden meist rücksichtslos und gegen die Interessen der Mehrheit der Betroffenen gefällt und durchgesetzt:

  • Die heute politisch maßgeblichen Kräfte betreiben die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche – der Schulen, der Universitäten, des Gesundheitswesens, der Altenpflege, des Fernsehens. Letzteres ist schon vor 30 Jahren geschehen. Damals wurde wie heute bei Stuttgart 21 die zerstörerische Wirkung vorhergesagt. Schon damals sind Warnungen dieser Art in den Wind geschlagen worden. Damit zwei große Medienkonzerne, Bertelsmann und Leo Kirch, viele Hunderte von Millionen, vermutlich Milliarden, an der Privatisierung verdienen. Und die beteiligten Politiker auch. Ein Skandal wie hier in Stuttgart.
  • Die maßgeblichen Entscheider zwingen den Griechen, den Spaniern und anderen Völkern des Südens die so genannte Sparpolitik auf und ruinieren damit die berufliche und menschliche Zukunft einer halben Generation. Es gibt keine Alternative, behaupten sie. Das ist unwahr!
  • Sie vertreiben Familien mit mittleren und niedrigen Einkommen aus unseren Städten, weil ihre Spezies aus der Immobilien- und Spekulantenbranche dort Wohnungen und Häuser für Spitzenverdiener bauen wollen.
  • Sie haben hierzulande die Leistungsfähigkeit der solidarischen Rente zerstört, um den Versicherungen und Banken ein neues Geschäftsfeld zu eröffnen. Und sie behaupten, diese Reform sei ohne Alternative. Eine glatte Lüge!
  • Sie wollen die Wasserversorgung europaweit privatisieren. In Berlin wurden die einschlägigen Verträge zur Geheimsache erklärt. Stuttgart 21 ist überall.
  • Sie privatisieren Kliniken. Bei uns wie in den bedrängten europäischen Staaten des Südens. Sie nutzen die Not der Menschen und der Staatshaushalte aus, um an Schnäppchen zu kommen. Das ist unanständig.
  • Sie zerstören gewachsene Strukturen in unseren Städten, wie hier in Stuttgart.

Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg kann sich auf eine Volksabstimmung berufen und tut das auch. In der Politik gebe es keinen Platz für Wahrheit und Lüge, hier entschieden Mehrheiten, ist von ihm zu hören und zu lesen.

Ich will mich darüber nicht lustig machen. Wir sollten als Demokraten beachten, was die Mehrheit sagt. Aber dieser Respekt vor einer Mehrheitsmeinung kann uns doch nicht davon abhalten zu fragen,

  1. wie diese Mehrheitsmeinung zustande kam. Dietrich Krauss zitiert in einem lesenswerten Artikel für die Wochenzeitung „Kontext“ unter dem Titel „Die Wahrheit ist obdachlos“ Hannah Arendt mit folgendem Satz: „Meinungsfreiheit ist eine Farce, wenn die Information über die Tatsachen nicht garantiert ist“.Die notwendige Kenntnis der Tatsachen war auch nicht annähernd garantiert. Dass bei Stuttgart 21 weniger Züge abgefertigt werden können als im Kopfbahnhof, wussten die meisten Befragten so wenig, wie sie die vorhersehbar höheren Kosten kannten.Da muss man schon fragen dürfen: Kann eine Mehrheit allen Ernstes unbestreitbare Fakten außer Kraft setzen? Genau das scheint MP Kretschmann zu glauben, obwohl selbst der juristische Vater der Volksabstimmung, der Verfassungsrechtler Joachim Wieland, längst erklärt hat, dass die Volksabstimmung unter den veränderten Voraussetzungen keine Gültigkeit mehr beanspruchen könne.
  2. Angesichts der Heiligsprechung dieser zweifelhaften Volksabstimmung muss man weiter fragen, ob Politiker ihrer Verantwortung gerecht werden, wenn sie sich damit begnügen, den Finger in den Wind zu halten, und dann diese Momentaufnahme zur Grundlage einer nicht mehr umstoßbaren Entscheidung machen. So können verantwortliche Politiker ernsthaft nicht verfahren.Wer den Finger in den Wind hält, der kann in der Regel die großen politischen Entscheidungen gleich der Bild-Zeitung und den Strategen in den großen Public-Relations-Agenturen überlassen. Denn jene, die über viel Geld und viel publizistische Kraft verfügen, können offensichtlich weit gehend die veröffentlichte Meinung und damit auch, wo es politisch lang geht, bestimmen. Weiß man das in der Stuttgarter Staatskanzlei nicht?
    Als Winfried Kretschmann zu studieren begann, gingen Studenten und Arbeiter gemeinsam auf die Straße, um gegen Macht und Hetze des Springer-Konzerns zu demonstrieren. Weil sie wussten, dass dort die Manipulation von Mehrheiten bewusst geplant wurde. Weil sie wussten, dass demokratische Willensbildung mehr verlangt als die Abfrage des Meinungsstandes.Wir haben Politiker nicht deshalb in ihre Ämter gewählt, damit sie wie Buchhalter festhalten, was die eigentlichen Meinungsmacher an Meinung gemacht haben. Sie haben verantwortungsvolle Ämter, damit sie im Dialog mit den Menschen und mit ihren Parteien, mit Wissenschaftlern und mit kritischen Bürgerinnen und Bürgern um gute politische Entscheidungen ringen.Manchmal muss man dafür als Politiker Meinungsführer sein, manchmal muss man versuchen, einer Minderheitsposition eine Mehrheit zu verschaffen. Wenn es die Sache, wenn es das Gemeinwohl, wenn es der Frieden und das Zusammenleben der Menschen verlangen.

Es gibt für dieses Ringen um die beste Lösung wunderbare Beispiele in der jüngeren deutschen Geschichte – drei dieser Beispiele will ich herausgreifen:

  1. 1.  Es gab, als der Widerstand gegen die Nutzung und den Ausbau der Kernenergie in Deutschland begann, keine Mehrheit für den Ausstieg. Die Demonstranten gegen das AKW Brokdorf, gegen den Schnellen Brüter in Kalkar und gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf waren die Minderheit. Dazu gehörte auch die baden-württembergische SPD, die damals auf einem Landesparteitag in Aalen einen Weg weisenden Beschluss gefasst hatte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie sich in der morgendlichen Lagebesprechung des Bundeskanzleramtes in Bonn Bundeskanzler Schmidts Regierungssprecher und der zuständige Abteilungsleiter über die unvernünftigen Baden-Württemberger aufregten. Sie – die Baden-Württemberger SPD - und die dann folgenden Grünen haben die richtige Richtung gewiesen. Sie haben sich nicht der von Interessen und einer falsche Risikoabschätzung geprägten Mehrheitsmeinung gebeugt. Darauf könnten sie stolz sein und die Konsequenzen für heute ziehen und um eine Mehrheit für die sachlich richtige Lösung kämpfen: die Modernisierung des Kopfbahnhofs.
  2. Es gab keine Mehrheit für die Versöhnung mit Polen und Russen und für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, als Brandt und Bahr die so genannte Ostpolitik planten und dann mit SPD, FDP und wenigen aus der CDU umsetzten. Wenn die damals Verantwortlichen wie heute Ihr Ministerpräsident gesagt hätten: Mehrheit ist Mehrheit und Mehrheit ist die Wahrheit, dann hätten wir noch viel länger auf das Ende der militärischen Konfrontation in Europa warten müssen. Die Mehrheit für die friedliche Lösung des Konflikts und damit für die sachlich richtige Entscheidung wurde von den genannten Personen erkämpft. So müsste es auch bei Stuttgart 21 sein! Merkel und Kretschmann und Ramsauer haben eine Bringschuld!
  3. Auch für Umweltschutz gab es keine Mehrheit. Als Willy Brandt 1961 für einen blauen Himmel über der Ruhr warb, lachten die Kommentatoren und die regierende CDU. Und als Erhard Eppler als Vorsitzender einer Steuerreformkommission seiner Partei im November 1971 eine Abgabe auf umweltschädliche Produkte durchsetzte, da nahmen die Medien und auch  die Politiklehrer keine Notiz von diesem Fortschritt.Als dann die Grünen den Umweltschutz zum Kern ihrer Programmatik machten, wurden sie befehdet und übel stigmatisiert. - Nebenbei: Ich habe damals in den Reihen der SPD und im Kanzleramt dieser üblen Stigmatisierung der Grünen widersprochen. Dass die Grünen heute bei der offensichtlich abgesprochenen Stigmatisierung der Linkspartei mitmachen, ist angesichts ihrer eigenen Erfahrung mies und schäbig.Die Mehrheiten für nahezu alle umweltpolitischen Maßnahmen einschließlich der Ökosteuer mussten erkämpft werden. Mit dem Finger im Wind, mit Berufung auf Abstimmungen und Umfragen wären wir nicht weiter gekommen.

Ich appelliere an die baden-württembergische SPD und an die baden-württembergischen Grünen, sich ihrer guten Traditionen zu erinnern: das täte uns, das täte dem Land und es täte ihnen gut. Gute politische Entscheidungen kommen nur dann zu Stande, wenn zwischen Bürgern, Parteien und aktiven Politikern um die Qualität der Entscheidungen gerungen wird. Gemessen an diesem notwendigen Anspruch an die demokratische Willensbildung ist die Entscheidung für Stuttgart 21 Ausdruck eines einfältigen Demokratieverständnisses.

Wehrt euch, vernetzt euch, nicht nur in Stuttgart, überall – heißt es in der Einladung
Ich bewundere die Fantasie und die Ausdauer des Widerstands gegen Stuttgart 21 und der Befürworter von K 21. Was Sie hier mit Demonstrationen und der vielen Expertenarbeit und der juristischen Begleitung geleistet haben, hat weit über Stuttgart hinaus gestrahlt. Deshalb liegt es nahe, den Widerstand gegen die „Methode Merkel“, wie Volker Lösch das nennt, auszudehnen. Und ihn hier vor Ort nicht aufzugeben.

Die Bewunderung für Ihre Arbeit lässt mich zögern, zum Schluss mit ein paar Ratschlägen zu kommen. Ich will es auf dem Hintergrund unserer zehnjährigen Arbeit für die NachDenkSeiten und meiner schon längeren Beobachtung von Meinungsmache und ihrem Einfluss auf wichtige politische Entscheidungen dennoch tun.

  • Leuchten Sie hinter die Kulissen, legen Sie die Strategien und Methoden der Manipulation offen. Das ist wichtig. Sie, als Kritiker von Großprojekten und der neoliberalen Reformen werden nämlich nie so viele Informationsimpulse aussenden können wie ihre Widersacher, mit BILD, Spiegel Online und anderen PR-Strategen im Hintergrund. Deshalb müssen Sie die massenweise Manipulation zum Thema machen. Damit erschüttern Sie die Glaubwürdigkeit der großen Interessen und ihrer politischen Ableger. Mit den NachDenkSeiten versuchen wir dies täglich. Wir zeigen Menschen, wie sie an der Nase herumgeführt werden. Und wie sie sich dagegen wehren können. Einer unserer Leser nannte mein Buch „Meinungsmache“ und die NachDenkSeiten deshalb einen „Augenöffner“. So ist es gedacht.
  • Legen Sie die Strategien der Gegenseite offen und widerlegen Sie sie, möglichst früh, damit ihre eigenen Freunde immunisiert werden. Zum Beispiel wird immer wieder behauptet, die Korrektur der falschen Entscheidung für Stuttgart 21 sei nicht mehr möglich und teuer. Die Korrektur ist nicht nur nötig, sie ist auch möglich. Bei anderen Großprojekten war schon sehr viel mehr investiert und die Entscheidungen wurden trotzdem korrigiert: so beim Schnellen Brüter und der Kernenergie insgesamt; das AKW Brokdorf, Wackersdorf, die bemannte Weltraumfahrt – alles war schon mit viel Geld begonnen und dennoch abgesagt worden.
  • Nennen Sie Lügen Lügen, und Betrug Betrug. Meist ist die sanfte Sprache besser. Aber auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil.
  • Machen Sie die politische Korruption zum großen Thema. Sie ist bei wichtigen und teuren politischen Entscheidungen meist im Spiel. Wir haben mit der Offenlegung politischer Korruption beste Erfahrungen gemacht: Riester-Rente und Rürup-Rente galten lange als großartig. Erst als wir zusammen mit anderen Kritikern sichtbar machten, wer die eigentlichen Profiteure dieser gesellschaftspolitischen Zerstörung sind – nämlich Maschmeyer, Raffelhüschen, Riester, Rürup und eine Riege weiterer Professoren und die Banken und Versicherungskonzerne – wuchs der Zweifel. Genauso ist die Erfahrung mit dem Großprojekt Kommerzialisierung des Fernsehens und des Hörfunks.
    Es gibt fast keine teure politische Entscheidung mehr ohne Korruption. Schärfen wir die Sinne der Menschen dafür!
  • Gegner der angeblich modernen Großprojekte wie auch der neoliberalen so genannten Reformpolitik werden oft in die Ecke der Träumer und Spinner geschoben. Das Projekt Stuttgart 21 belegt beispielhaft, dass die Spinner, die Trickser, die Fälscher und die Zerstörer auf der andern Seite sitzen. „Oben bleiben“ ist die sachlich richtige und effiziente Lösung eines verkehrspolitischen und städtebaulichen Problems. Auf dem Markenzeichen  „Vernunft und Effizienz“ sollten wir hier in Stuttgart wie bei anderen Projekten bestehen.
  • Nutzen Sie den Wahlkampf für die Bundestagswahl am 22. September. Fordern Sie von Ihren Kandidaten ein klares Bekenntnis zum Oben bleiben. Fragen Sie, warum Tunnel-Parteien wählbar sein sollten.

Stuttgart 21 ist überall – so sagen die Veranstalter. Sie wollen ihre Arbeit ausdehnen und übertragen auf andere. Das ist ein hilfreiches, gutes Projekt. Es kann in eine Lücke stoßen, die in den letzten drei Jahrzehnten entstanden ist. In den Sechziger und Siebzigern tummelte sich hierzulande ein aufgewecktes kritisches Bürgertum. 16 Jahre Kohl, dann Schröder und Merkel gepaart mit wirtschaftlichen Sorgen und Arbeitslosigkeit haben dieses Salz in der Suppe stumpf werden lassen. Das kritische Bürgertum ist aber wichtig für den Meinungsbildungsprozess in einer Demokratie und damit für die Vernunft politischer Entscheidungen. Das Projekt „Stuttgart 21 ist überall – wehrt euch, vernetzt euch!“ könnte Katalysator und Kern einer neuen Bürgerbewegung werden. Das wünsche ich Ihnen und mir. Soweit wir das Projekt mit den NachDenkSeiten unterstützen können, tun wir das gerne.

Redetext als PDF - bei der Mahnwache in gedruckter Form erhältlich

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