Siggis Schmähbrief Nr. 36

Stuttgart, 27. Mai 2013

„Da ratschlagten die Fürsten, wie sie dem Grimm des Volkes entgehen sollten, und die Listigen unter ihnen sagten: Lasst uns einen Teil unserer Gewalt abgeben, dass wir das Übrige behalten. Und sie traten vor das Volk und sprachen: Wir wollen Euch die Freiheit schenken, um die Ihr kämpfen wollt. Und zitternd vor Furcht warfen sie einige Brocken hin und sprachen von ihrer Gnade. Das Volk traute ihnen leider und legte sich zur Ruhe.“

Der Siggi wieder! Mit den Worten aus „Der hessische Landbote“ (1834) von Georg Büchner. Dem sein Geburtstag, 1813, jährt sich dieses Jahr zum 200. Mal wie der von dem musikraunenden Antisemiten Richard Wagner. Büchner is im Oktober dran, schaun mer mal, was des Feuilleton salbadern wird.

„Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ titelt der Büchner. War und is ein Aufruf zum Terrorismus (der Büchner musste abhaun). Der Siggi verweist auf des historische Datum, weil der Verfassungsschutz sonst fündig geworden wär. Hat doch der Schäuble in seiner Zeit als Innenminister diese dumpfbackige Behörde auf den sog. Linksextremismus geeicht.

Was hat jetzt des mit dem Protest gegen Stuttgart 21 zu tun? Rein gar nix. Außer dem, dass der Büchner, dieser junge und sehr gescheite Kerl, Herrschaftstechniken aus dem Feudalismus beschreibt, s.o., (nach der französischen Julirevolution von 1830 und deren Wirkungen in den deutschen Ländern), die auch in unseren demokratieheischenden Zeiten beobachtet werden können. Idealtypisch die Geschichte von dem S21-Protest: Schlichtung/ Wahlen/ Stresstest/ Volksabstimmung/ Filderdialog/ Mitbestimmung bei der DB ...

Oder des Informationsdings im Bahnhofsturm, des nach einer Überarbeitung auch über die Protestbewegung (per Touchscreen) „informiert“. Kein einziger Kritikpunkt wird erwähnt – kein einziger – außer dass in 2010 viele Leut auf der Straße waren. Aber genau wird aufgelistet, was die Polizeieinsätze gekostet haben. Und von der sog. Schlichtung wird verzapft, dass der Geissler Nachbesserungen verlangt habe. Die werden aber nicht aufgeführt, nur die Forderung nach dem Stresstest. Natürlich wird das Urteil von dem Dr. Engelhardt nicht zitiert, der vom „größten Betrug der deutschen Industriegeschichte“ gesprochen hat. Die ganze Show über drei Stockwerke ist so blöd und greißlich wie des renovierte Restaurant, anthrazitgraues Bardunkel, und der Blick in die Brachen tief drunten ... Jessas. Der Siggi meint: eine einzige Beleidigung, Verhöhnung dessen, was diese Stadt (vorübergehend) so lebendig gemacht hat. Hat nicht der Fritz Kuhn mal angedacht, dass man die städtischen Zuschüsse für diese depperte Show streichen sollte?! Gestern is halt scho lang her!

Jetzt des noch: „Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin ... Wir dürfen unser Premiumsegment von der EU nicht kaputtregulieren lassen ...“ So stehts in einem Schreiben des Herrn Matthias Wissmann, Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (StZ,22.5.), ehemals Verkehrsminister und als solcher Antreiber zu Stuttgart 21. Wo doch das Auto auf die Schiene, blabla ... Und jetzt: bittschön, noch mehr dieser GangstaBoliden von Daimler, Porsche oder BMW, die dann nicht nur Stuttgarts Straßen verstopfen und deren Fahrer sich dann aufregn können von wegen „freie Fahrt für freie Bürger!“ wie bei den Demonstrationen (die Ausstellungsmacher von der S21-Show sind sich nicht zu blöde, solche Aufregung zu zitieren).

Noch'n Gedicht? Liest der Siggi in der StZ vom 14.5, dass des Institut der deutschen Wirtschaft (IW) gutachtet, dass die deutsche Gesellschaft eben nicht auseinanderdrifte. Also diese Reich/Arm-Geschichte, die bekanntlich den Wirtschaftsminister Rösler veranlasst hat, die deutlichsten Aussagen zum „Auseinanderdriften“ zu schwärzen.

Joe Bauer in seiner Rede am 23.2.2013 auf dem Stuttgarter Schlossplatz: „… Soll uns doch keiner erzählen, die Milliarden für Stuttgart 21 hätten mit sozialen Problemen nichts zu tun. Man kann das Geschwätz von den 'verschiedenen Finanztöpfen' nicht mehr hören. In dieser Stadt verbrennt man Unsummen von Steuern für ein destaströs geplantes und aufwendig propagiertes Milliardenprojekt, während man zu gleicher Zeit Wellblechcontainer als Kindertagesstätten aufstellt. Und die Vesperkirche in der Altstadt kommt nicht mehr nach, den Leuten ein bezahlbares warmes Essen auszugeben.“

Hängt ja ois  zamm. Global und stadtnah. Flucht der Siggi. Und einen respektvollen Gruß an Georg Büchner und Joe Bauer.

Aber nicht auf die Lobredner zu 150 Jahren SPD. Die regelmäßig vergessen, den Sündenfall der einstigen Parteiführung unter Friedrich Ebert zu erwähnen: die Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 und ihr Einsargen in den sog. Burgfrieden. Fortgesetzt im Bündnis mit der Obersten Heeresleitung nach diesem Krieg zur Niederschlagung der Linken. Dass der Schröder wegen Ablehnung einer Beteiligung am Irakkrieg nochmal Bundeskanzler werden konnte, hat ihm die Freiheit für die Agenda 2010 beschert. Weil bekanntlich Partei des kleinen Mannes, dem man genauer auf die Finger schaun muss als den Finanzbanditen in deregulierten Märkten. Und „Infrastrukturpartei“ (Nils Schmid), die „Gottes Segen“ (Schmiedel) auf dieser Stadt- und Bahnzerstörung ruhen sieht.

Einen Gruß möcht der Siggi noch entrichten an die kontextwochenzeitung.de/denkbühne/ Nr.111 „Die Wahrheit ist obdachlos“. In diesem Artikel von Dietrich Krauß wird die Hannah-Arendt-Verbrämung von Kretschmanns Demokratiebegriff zurechtgerückt bzw. auseinandergenommen. „Von Hannah Arendt kann sich Kretschmann keine Unterstützung erhoffen bei der Entsorgung unbequemer Tatsachen ... Den Protestbürgern wird ... von ihrem vermeintlich politisch Verbündeten (gemeint wohl Winfried Kretschmann) die schärfste Waffe aus der Hand geschlagen: der kritische Sachverstand, die fundierte Recherche unbequemer Wahrheiten, mit der man die mächtige Lobby erfolgreich herausgefordert hat. Sie wird als demokratieschädlich gebrandmarkt beziehungsweise zur bloßen Meinung relativiert. Nicht einmal mehr Züge kann man mehr objektiv zählen. Und damit niemanden mehr der Lüge bezichtigen, der hierzu falsche Behauptungen aufstellt ...“ Und Dietrich Krauß zitiert am Ende Hannah Arendt: „In einer Welt, in der man mit Tatsachen nach Belieben umspringt, ist die einfachste Tatsachenfeststellung bereits eine Gefährdung der Machthaber.“

Sehr lesenswert. Schauts nach!  Internetadresse von kontext./ „Der hessische Landbote“ (zusammen mit der Erzählung „Lenz“) gibt’s als Reclamheftchen. Ein Vergleich mit „Empört Euch“ von Stéphane Hessel? Etwas inflationär verwendet dieser Slogan von unserer kritischen Prominenz, Peter Grohmann und Volker Lösch mögen entschuldigen. Im selben Heftchenformat gibt’s übrigens auch die „Ungehaltenene Rede“ von Jean Ziegler, die man dem Festspielpublikum 2010 in Salzburg nicht zumuten durfte. Joe Bauers Depeschen bzw. Kolumnen allemal auf seiner Homepage.

An scheana Gruaß vom Siggi!

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