Rede von Sabine Leidig, MdB LINKE und Mitglied im Verkehrsausschuss des Bundestags, auf der 170. Montagsdemo am 29.4.2013
Liebe Freundinnen und Freunde,
es ist mir wirklich eine Ehre, dass ich bei dieser 170. Montagsdemo sprechen darf – ich bin gerne hier, um den bürgerschaftlichen Geist demokratischer Erneuerung zu erleben.
Tom Adler hat mich gebeten, heute über das Verhältnis von Regierung und Parlament zu Stuttgart21 zu reden und über die Frage, wie es um das öffentliche Interesse an diesem Projekt bestellt ist.
Das will ich gerne tun, aber dabei soll es nicht bleiben. ich will auch meine Überlegungen mit euch teilen über die Frage, wie wir zu echter Demokratie kommen.
Doch zunächst zu Berlin: die letzte Runde zu S21 in der Berliner Arena hat sich am 5. März abge-spielt, als der Bahn-Aufsichtsrat wider alle Vernunft und wider besseren Wissens die Fortsetzung des Desasters beschlossen hat. Mit dem absurden Argument, dass die Bilanz der DB-AG bei einem Schrecken ohne Ende – bei dem die Mehrkosten über 13 Jahre oder länger einsickern – immer noch besser aussieht, als wenn auf einen Schlag die zweckentfremdeten Mittel an die Stadt Stuttgart zu-rückgezahlt werden, wenn das Projekt begraben und der Grundstücksverkauf rückgängig gemacht wird.
So weit so schlecht.
Vorangegangen war diesem schwarzen Dienstag unter anderem eine Debatte im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages, in der es nur noch einen einzigen gab, der die Vorzüge des Tunnel-bahnhofes unverdrossen gepriesen hat: der Kollege Kaufmann, CDU-Abgeordneter aus dem Stutt-garter Süden, der allen Ernstes den Fahrzeitgewinn auf der Magistrale Paris – Bratislava als wich-tigstes Argument für Stuttgart21 ins Feld führt.
Die SPD-Vertreter sprechen über die großen Risiken und sind sehr empört über die Kostenexplosion, als wären sie völlig überrascht von dieser Entwicklung. Dann aber geben sich ganz staatsmännisch und erteilen dem Verkehrsminister Ratschläge, was er tun muss, damit doch noch alles gut geht, weil man ja jetzt nicht mehr aussteigen kann.
Auch die Grünen im Verkehrsausschuss sprechen nicht über Ausstieg, sondern darüber, dass die Zusatzkosten nicht auf das Land Baden-Württemberg abgewälzt werden dürfen.
Der Staatssekretär Ferlemann bleibt bei seiner distanzierten Haltung, nach der Stuttgart21 ein eigen-wirtschaftliches Projekt der Bahn sei, der Bund lediglich für die Anbindung an die Neubaustrecke verantwortlich und im Übrigen jede Bahnhofssanierung mit den Infrastrukturzuschüssen möglich sei.
Der Herr Kefer vom Bahnvorstand wiederholte auf meine Frage die Aussage, dass die Bahn nicht aussteigen könne, weil KEINER der Projektpartner dazu Verhandlungen angeboten habe. Das war übrigens der Grund, warum die Arbeitnehmervertreter im AR auch für Weiterbau stimmten – aus Furcht vor Schadensersatzforderungen, die sonst auf „ihr Unternehmen“ zukommen würden. Grube hatte zuvor öffentlich bekundet, dass die Bahn das Projekt abgeblasen hätte, wenn die wirklichen Kosten schon 2009 bekannt gewesen wären – das ist zwar geheuchelt, aber zeigt, dass er auch nicht verantwortlich sein will.
Aber eine gibt es, die – koste es was es wolle – dieses zerstörerische Großprojekt weiter treibt, und das ist die Bundeskanzlerin selbst, die die Vertreter des Bundes im Bahn-Aufsichtsrat auf Kurs hält. Und das ganz ohne inhaltliche Argumente – die interessieren gar nicht. Es geht einzig und allein um die Staatsraison.
Die Regierungschefin Merkel ist überzeugt, dass sich an der Tieferlegung des Hauptbahnhofs in Stuttgart entscheidet, ob Großprojekte in Deutschland überhaupt noch durchführbar sind, und sie verbindet dies mit ihrer Autorität in Europa. Sie will die Schlappe eines Baustopps im Bundestags-Wahljahr vermeiden, koste es was es wolle.
Es geht offensichtlich darum, dass die herrschenden Eliten ihre Vorhaben umsetzen können und dass die widerspenstigen Bürgerinnen und Bürger nicht das letzte Wort behalten. Das Wohl des Staates, sein Ansehen im Ausland usw. werden ins Feld geführt. Und das schlimme ist, dass in unseren Par-lamenten die Neigung groß ist, dieser Haltung zu folgen. Das gilt selbst für Vertreter der Linken, wenn sie sich schwer tun, das erfolgreiche Volksbegehren für Nachtflugverbot in Brandenburg zu ihrer Sache zu machen. Auch da gibt es die Neigung, die Verträge mit der Flughafengesellschaft und die Koalitionsdisziplin über die Anliegen der Bevölkerung zu stellen. Und wenn ich sehe, wie nicht nur Herr Kretschmann heute sagt „Stuttgart21 wird gebaut“, sondern sogar mein einstiger Mitstrei-ter Winfried Hermann, der hervorragend gegen dieses Wahnsinnsprojekt argumentierte und heute erklärt, warum man nicht aussteigen kann, dann bin ich schon entsetzt, wie viel Macht diese Obrig-keitslogik hat und wie weit wir von echter Demokratie entfernt sind. Und ich finde, das müssen wir ändern!
Wir hatten in der letzten Sitzungswoche ein Fachgespräch über direkte Demokratie und da war der Schweizer Botschafter zu Gast, der zwei Punkte angesprochen hat, die mir zu denken geben:
Er fand es sehr befremdlich, dass bei uns die Bürgerinnen und Bürger nicht über die Erhebung und Verwendung von Steuern entscheiden können. Statt dessen sei die „Finanzhoheit das Königsrecht des Parlamentes“. Aber sowohl das Hoheitsrecht, als auch der König sind Begriffe aus der Zeit vor Aufklärung und bürgerlicher Revolution ...
Und dann machte er darauf aufmerksam, dass die Inschrift am Bundestag lautet „dem Deutschen Volke“ – also es wird von da gegeben (und genommen). Während die Schweizer Entsprechung lau-tet „durch das Volk“ und Parlament oder Regierung sich als abgeleitet betrachten – ein ganz anderes Staatsverständnis.
Die Frage ist, wie wir in reifen Gesellschaften wie der unseren dahin kommen, dass die Menschen über ihre Angelegenheiten viel mehr selbst bestimmen und dass sich die Gesellschaft der Parlamen-te, Parteien und auch der Wirtschaft bemächtigt und nicht umgekehrt. Das wäre echte Demokratie.
Ich habe keine fertigen Antworten, aber hier ist ein Raum, an dem die Fragen auf fruchtbaren Boden fallen und demokratische Praxis erwächst. Hier kommen Woche für Woche Leute zusammen, die an der gesellschaftlichen Entwicklung interessiert sind, die viel wissen und immer mehr wissen wollen, die vieles selbst in die Hand nehmen – die Mahnwachen, die Konferenzen, Kultur und Medien …. Die Protestbewegung gegen Stuttgart21 ist eine Brutstätte für demokratische Emanzipation – wahr-scheinlich die am meisten gereifte in dieser Republik.
Zum Glück es gibt eine ganze Reihe weiterer Initiativen, Proteste und Bewegungen, die solches Po-tential ausbrüten und zum Ausdruck bringen. Die Tradition der Montagsdemos hat weite Kreise gezogen: bei der Protestbewegung gegen Fluglärm im Rhein-Main-Gebiet ebenso wie in Berlin-Brandenburg.
Und vorgestern hat in Mainz eine wirklich eindrucksvolle Kundgebung stattgefunden mit fast 5.000 Beteiligten, die unter dem Motto „Gemeinsam gegen den Transportwahnsinn“ für mehr Lebensqua-lität und gegen den Vorrang der Profitinteressen demonstriert haben.
In Berlin gibt es eine Menge spannender Initiativen zur Selbstermächtigung der Bürgerinnen und Bürger: der S-Bahn-Tisch, die Mietergemeinschaften gegen Vertreibungen aus dem Kiez, gegen die Enteignung der Stadt durch Luxusimmobilien und Spekulation, für gute Pflegebedingungen im größten Krankenhaus usw.
Eine finde ich gerade besonders spannend: das Volksbegehren für Energie in Bürgerhand: www.berliner-energietisch.net
Dabei geht es nicht ums Aussteigen und Selbermachen – das geht ja weder bei Krankenhäusern noch bei Bahnhöfen – sondern um die konkrete Gestaltung des Öffentlichen.
Ich weiß, dass es schon gute Ansätze gibt, diese Gemeinsamkeit auch praktisch zu formieren. Zum Beispiel mit dem europäischen Forum gegen unnütze Projekte, das im Juli hier in Stuttgart zusam-men kommt.
Und ich freue mich total, dass ihr euch – ich glaube sogar mit einem Sonderzug – an den Blockupy-Protesten beteiligt, gegen die ganz und gar antidemokratische Politik der Euro- und Bankenrettung.
Am kommenden Samstag lädt die Rosa-Luxemburg-Stiftung hier im Bürgerzentrum Stuttgart-West zur Konferenz mit dem Titel „In Bewegung – gegen die Krise der Demokratie“, bei der ich in einem Workshop zu Bewegung und Parteien arbeiten will.
Mir geht es darum, wie Bürgerinitiativen, die um konkrete Anlässe herum entstehen und soziale Bewegungen, die vergänglich sind, mit den breit aufgestellten und kontinuierlichen Organisationen, Verbänden und Parteien zusammen wirken können.
Wahrscheinlich braucht es dafür Parteien neuen Typs, die nicht ihre eigene Agenda propagieren, sondern offen sind für gesellschaftliche Akteure, zuhören, aufnehmen, Angebote machen und ge-meinsame Strategien entwickeln, wie die Staatraison überwunden werden kann, wenn sie den sozial-ökologischen, wirklich demokratischen Veränderungen im Weg steht. Dafür jedenfalls setze ich mich ein.
Und ich wünsche mir sehr, dass ihr alle nicht nachlasst, diesen demokratischen Schub zu erzeugen. Sei es mit den Blockadeaktionen gegen die großen Bohrmaschinen, sei es mit Montagsdemos oder großen Kundgebungen, mit Vernetzungsinitiativen und politischen Debatten. Wir brauchen das al-les! Und zwar vor und nach der Bundestagswahl.
Und das noch zum Schluss: ich bin sicher, dass nach dem 22. September „auch noch ein Tag“ ist – und zwar einer, an dem dieses Wahnsinnsprojekt Stuttgart21 beerdigt wird, und nicht nur im „Ländle“, sondern im ganzen Land und darüber hinaus die Parole vom Oben bleiben gefeiert wird!
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