Rede von Tom Adler, Stadtrat Die LINKE und Gewerkschafter gegen S21, auf der 155. Montagsdemo am 7.1.2013
Die Rede gibt es auch auf blauem Papier bei der Mahnwache (so lange Vorrat reicht)
Ein historischer Tag ...
Ein OB ... ist weg. Noch bis zum letzten Tag hat er gearbeitet, lobt die Stuttgarter Zeitung. Nicht zum Wohl der Stadt, offenbar, sondern bis zum Schluss in Nibelungentreue gekettet an S21, sonst hätte er die Frist nicht verstreichen lassen, in der Schadenersatzansprüche der Stadt gegen die Bahn wegen der Täuschung über die Höhe der Projektkosten geltend gemacht werden können. Auf die hatten ihn unsere Juristen zu Stuttgart 21 rechtzeitig hingewiesen: zum Ende des Jahres sind die nämlich verjährt. Auch deshalb: sehr berechtigt, dass viele von Euch am Samstag vor der Liederhalle die passende Begleitmusik für diesen engagierten Förderer des Bahnprojekts und seiner Profiteure gemacht haben!
... und ein neuer tritt eben sein Amt an, einer, mit dem sich viele Hoffnungen verbinden ...
Komme grad von dort oben, wo am 21.12. bei der Verabschiedung von Herrn Schuster gelogen wurde, was das Zeug hält – und wo bei zwei Enthaltungen und drei Gegenstimmen (ratet von wem) Wolfgang Schuster auch noch zum Ehrenbürger gemacht wurde. Joe Bauer in der TAZ: Nach solchen Erlebnissen sollte man das Wort Ehre aus seinem Wortschatz streichen ...
Gerade eben hat der Ministerpräsident seine Rede zur Amtseinführung seines Parteifreunds gehalten – der hat eben die Amtskette angelegt bekommen und hält seine erste Rede. Als braver Gemeinderat sollte ich dort sitzen und den Worten des neuen OBs lauschen.
Aber in Stuttgart hat unsere Bewegung gegen S21 auf der Straße mehr Positives bewegt als viele Sitzungen Rathaus, so dass die Wahl nicht schwer fällt, wo man an so einem Montag um diese Uhrzeit hingehört. Das sei aber ein Widerspruch in sich, meinte Fritz Kuhn im Kontext-Interview, dauerhafte außerparlamentarische Bewegung zu wollen und gleichzeitig im Gemeinderat zu sein.
Da irrt Fritz Kuhn: denn ein Hannes Rockenbauch oder auch ich haben uns auch deshalb in den Gemeinderat schicken lassen, um dort Bürgerbewegung(en) zu unterstützen! In den Gründungsjahren der Grünen hat das übrigens noch zu ihrem Politikverständnis gehört; lang lang ist‘s her!
Wo stehen wir heute ... vor einem Finanzierungsloch von jetzt zugegebenen 6,8 Milliarden Euro, wobei die Fachleute wie Vieregg und Rössler die Kosten bei rund zehn Milliarden sehen!
Und wir stehen teils staunend, teils saumässig zornig vor einem Ministerpräsident, einer Staatsministerin und einem Verkehrsminister, die sich trotzdem immer noch hinter einer Volksabstimmung verschanzen! Dabei hat ihnen sogar der juristische Vater der Volksabstimmung, der Verfassungsrechtler Prof. Joachim Wieland, attestiert, dass deren Grundlage entfallen und die Volksabstimmung schließlich kein Gottesurteil ist!
Und er hat attestiert, dass Ministerpräsident Kretschmann den Vertrag mit der Bahn kündigen kann, wenn er nur will!
Genau das würden wir von einer grün geführten Landesregierung erwarten, statt einer Kretschmannschen Selbstinszenierung als Lichtgestalt, die über allen Interessen steht, die für Gegner wie Befürworter gleichzeitig spricht und vergessen hat, dass ihn nicht zuletzt unser S-21-Protest ins Amt gebracht hat!
Fast im Wochenrhythmus sind in den letzten Monaten Gründe für einen juristisch gangbaren Weg für einen Ausstieg auf den Tisch gekommen: vom nicht genehmigungsfähigen Gefälle des Tiefbahnhofs, fehlenden Planfeststellungen für strategisch wichtige Bauabschnitte, über das indiskutable Brandschutzkonzept bis zum nachgewiesener Kapazitätsabbau.
Das Projekt war von Anfang an ein politisches Projekt der alten CDU-Landesregierung, mit den Ba.-Wü.-Spezialdemokraten im Schlepptau und der Landeshauptstadt Stuttgart, das sagte Winfried Hermann zur FAZ. Es war, ist und bleibt also ein politisches Projekt, aus dem man genauso gut aussteigen kann wie eingestiegen wurde!
Mit Erich Kästner verlangen wir genau das von der Landesregierung, denn offensichtlich stimmt nicht, dass Verträge oder Volksabstimmung einen Ausstieg verhindern. Mit Erich Kästner, denn der hat geschrieben, obwohl er Grüne Ministerpräsidenten nicht mehr kennenlernen konnte: „An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern!“ Das hat über die Jahrzehnte nicht an Aktualität verloren ...!
Walter Sittler hat auf der Silvester-Montagsdemo gesagt: „Die Grünen sind nicht unsre Feinde“. Da hat er recht. Nicht auszudenken, wenn heute dort oben einem Turner die Amtskette umgelegt würde. Und wir haben nicht nur die Kretschmänner, sondern engagierte und tapfere Grüne Mitstreiter/-innen wie z. B. Clarissa Seitz!
Walter hat also recht; aber vor allem die, die in Machtpositionen sind und Weichen zum Ausstieg stellen können – sie müssen sich gefallen lassen, dass wir ein gutes Gedächtnis haben und Taten an früheren Worten messen! Wir können und dürfen als Bürgerbewegung kein doppelbödiges Spiel durchgehen lassen, bei dem sich die zurückhalten, die Macht haben, Weichen gegen S21 zu stellen. Und die, die unsre Stimme wollen, wie ein Cem Özdemir, sich wieder plötzlich in die Pose des entschlossenen Widerständlers werfen.
Zurück zum Stuttgarter Rathaus: „S21 ein Fehler, den wir machen müssen“?
Dort oben spricht gerade Fritz Kuhn, der mit unseren Stimmen Oberbürgermeister unserer Stadt geworden ist – Lieber Fritz Kuhn, im zweiten Wahlgang auch mit meiner.
Willkommen in Stuttgart, wir wünschen Ihnen Mut und Zähigkeit, um gegen den seit Jahrzehnten gehegten und gepflegten Filz anzugehen, und wir wünschen uns, dass die bisherige Politik des Faktenschaffens hinterm Rücken und gegen die Bedürfnisse der Stuttgarter mit Ihnen als OB ein Ende hat!
Fritz Kuhn hat erklärt, dass er Stuttgart 21 nach wie vor für ein schädliches Projekt hält. Er hat aber auch wie sein Kollege Palmer vertreten: S21 sei ein Fehler, den wir machen müssen. Das sehen wir völlig anders, Herr Kuhn! Stuttgart 21 ist ein immer noch vermeidbarer Fehler, Stuttgart 21 kann noch beendet werden!
Für uns ist es deshalb nicht akzeptabel, wenn sich auch Fritz Kuhn bisher noch hinter einer Volksabstimmung verschanzt, denn alles Nötige zur Volksabstimmung und zum Volksabstimmungsbetrug liegt inzwischen auf jedem Tisch, sogar dem Tisch von Herrn Dorfs bei der Stuttgarter Zeitung, und es ist hundertfach gesagt und nachgewiesen!
Herumgeeiere wird nicht stichhaltiger durch permanente Wiederholung; mit Ausflüchten muss endlich Schluss sein! Das erwarten wir von Fritz Kuhn, und wir erwarten, dass er alle, aber auch alle Möglichkeiten nutzt, um Stuttgart 21 die Unterstützung dieser Stadt zu entziehen und weiteren Schaden von unserer Stadt abzuwenden. Deshalb fordern wir vom neuen OB, dass er
- Die Rückabwicklung des Gleisvorfeld- und des Gäubahntrassenkaufs von der Bahn veranlasst!
Die Stadt Stuttgart hat das Gleisvorfeld als Bauland – zu Baulandpreisen – gekauft. In der Erwartung, dieses Gelände als Bauland nutzen zu können. Längst ist aber nachgewiesen, dass der Tunnelbahnhof die Leistungsfähigkeit des Kopfbahnhofs nicht ersetzen kann, geschweige denn steigern! Und dass deshalb eine Stilllegung des bestehenden Kopfbahnhofs mit seinem Gleisvorfeld rechtlich gar nicht möglich ist! Die Geschäftsgrundlage für den Kauf beruht auf Täuschung, der städtebauliche Nutzen ist ein Phantom! Deshalb muss von der Bahn der Kaufpreis zuzüglich Zinsen zurückgefordert werden, so wie es im Kaufvertrag steht – immerhin 650 Mio. € nach aktuellem Zinsstand. OB Kuhn muss diesen Rückkauf jetzt veranlassen – Wir wollen unser Geld zurück, Fritz Kuhn! Alle Posten zusammengenommen rund eine Milliarde Euro! Was könnte in dieser Stadt nicht alles Sinnvolles mit so viel Geld gemacht werden! - Es gibt also nicht die mindeste Rechtfertigung für eine finanzielle Beteiligung der Stadt an diesem Bahnprojekt. Es gibt null städtebaulichen Nutzen; im Gegenteil: Es droht städtebaulicher Schaden durch die geplanten Tunnel in geologisch instabilem und riskantem Untergrund! Wir fordern deshalb zweitens: OB Kuhn muss die Beteiligung der Stadt Stuttgart an der verfassungswidrigen Mischfinanzierung des Tunnelprojekts S21 sofort einstellen und die Finanzierungsvereinbarung gerichtlich überprüfen lassen!
- OB Kuhn sitzt im Lenkungskreis. Seine Stimme hat Gewicht. Wir erwarten, dass er sich dort dafür einsetzt, dass das Projekts S21 im Sinne des Finanzierungsvertrags abgewickelt wird! Je schneller der Ausstieg kommt, desto geringer der Schaden für alle Beteiligten. Und Schaden von der Stadt abzuwenden ist Aufgabe des Oberbürgermeisters!
- Forderung an Fritz Kuhn: Die Stadt muss jede Beteiligung an den Stuttgart-21-Propagandabüros und Ausstellungen einstellen! Das heißt: Austritt aus dem Verein Bahnprojekt Stuttgart – Ulm, der Werbeplattform für Stuttgart 21. Das heißt weiter: Abbau der Werbeausstellung im Rathaus! Das heißt weiter: Schluss mit der Finanzierung des Vereins Turmforum; dabei geht es um eine sechsstellige Summe, für die es bei Sozialem und Kultur wirklich dringenden Bedarf gibt!
Und Öffentlichkeitsarbeit im S-21-Sprecherbüro des unsäglichen Herrn Dietrich wird auch von einer sogenannten Bürgerbeauftragten gemacht – die ihr Geld von der Stadt bekommt! Sie muss dort abgezogen werden und in der Stadtverwaltung eine sinnvolle Aufgabe übertragen bekommen! - Zu OB Schusters penetranter S21-Förderung gehört auch die sogenannte Bürgerinformation über das Rosensteinviertel. Mit dem Bau könnte aber erst begonnen werden, wenn Stuttgart 21 je fertig würde, also erst nach 2023! Was wir, hoffentlich mit Fritz Kuhn, verhindern wollen und verhindern werden! Dieser Pseudo-Beteiligungs-Unfug muss eingestellt werden; stattdessen gehört Bürgerbeteiligung organisiert an Bauprojekten wie dem Wiederaufbau von Nord- und Südflügel oder an einer Energiewende mit 100%ig öffentlichen Stadtwerken!
- Die Bahn will auch im Rosensteinpark noch vor Beginn der Vegetationsperiode rund 100 große Bäume fällen. Fritz Kuhn muss dagegen öffentlich auftreten. Die Stimme des Stuttgarter OBs hat Gewicht bei der Landesregierung – Fritz Kuhn, fordern Sie Nils Schmid auf, den Gestattungsvertrag nicht zu unterschreiben!
Auch die Bäume, die in der Wolframstraße gefällt werden sollen, wären Opfer von Stuttgart 21. Fritz Kuhn muss deshalb die Planungen für die Wolframstraße neu überprüfen lassen und verhindern, dass dort in Kürze mit Kettensägen vollendete Tatsachen geschaffen werden! - Der geplante Straßburger Platz über dem geplanten Tunnelbahnhofsdach würde nie so aussehen können, wie die Computeranimationen vortäuschen: Brandschutz – und Rettungsprobleme würden erzwingen, dass zu den eh schon hässlichen Glubschaugen allerhand weitere Aufbauten hässlich und störend aus dem Platz wuchern. Das ist für das Stadtbild so unerträglich wie der Tunnelbahnhof selber. Ein Punkt mehr, an dem Fritz Kuhn ein Veto gegen jeden Weiterbau einlegen kann und muss!
- Fritz Kuhn hat – ich zitiere – die „unsoziale Drecksauerei“ Feinstaub zur Chefsache erklärt. Er will 20 Prozent weniger Autoverkehr im Stuttgarter Kessel. Das ist nur erreichbar, wenn wir einen funktionierenden, endlich wieder zuverlässigen, in Zukunft weiter ausgebauten Öffentlichen Transport bekommen! Nur so können und werden Pendler Nahverkehrszüge oder die S-Bahn nutzen.
Wenn Kuhn das vor Ende seiner Amtszeit 2020 noch erreichen will, muss er helfen, Stuttgart 21 schnell zu stoppen! Sonst ist das „auf absehbare Zeit nicht umsetzbar“ – das hat Brigitte Dahlbender der Landesregierung und der Stadt bereits vorgerechnet, und die Bahn- und S-Bahnfahrer erleben es inzwischen jeden Tag am eigenen Leib! - Und Letztens, auch das gehört zur Feinstaubreduzierung, erwarten wir von Fritz Kuhn, dass er versucht, die Beschlüsse zum Bau des Rosensteintunnel neu aufzurollen – denn wer sich die Realitäten nicht zurechtlügt, wie die Tunnelparteien im Gemeinderat, der weiß, dass mehr Straßen und mehr Tunnel mehr Verkehr bringen werden – auch in unsern Feinstaubgeplagten Kessel!
Das alles, liebe Freundinnen und Freunde, ist realisierbar, wenn ein Oberbürgermeister das anpackt und eine starken Bürgerbewegung hinter sich hat.
Wenn er das tatsächlich anpackt, hat er dabei die Unterstützung dieser Bewegung und ihrer engagierten Fachleute! Wir stehen dicht hinter ihm – so dicht, dass zurückweichen vor dem Filz schwerfallen könnte und blaue Flecken macht (politische natürlich)!
Denn das haben wir schmerzhaft gelernt als Bewegung: Nur die vermeintlich richtigen Kreuze machen und sich dann zurück aufs Sofa verziehen und hoffen, dass neue Machthaber alles für uns richten werden – das führt uns geradewegs in die Baugrube!
Aber versenken, begraben, beenden, wollen und werden wir – hoffentlich bald! – dieses schädliche unsägliche Bauprojekt!
Der Wind hat sich zwar gedreht und bläst inzwischen den Rauch der Nebelkerzen weg, die Schuster und Grube, Zetsche und Herrenknecht, Schmidt und Schmiedel, Ramsauer und Merkel über Jahre geworfen haben.
Aber fürs genüssliche Zurücklehnen ist es zu früh, denn bei S21 wir haben es ja nicht mit einer Provinzposse zu tun, sondern mit den richtig Mächtigen in der Republik. Die gesamte Autolobby hat sich für dieses Projekt einspannen lassen, weil ihr der Kapazitätsrückbau in die Hände arbeitet bei der Herstellung amerikanischer Verkehrszustände! Die Projektbefürworter und Profiteure haben noch längst nicht kapituliert, sie sortieren sich momentan neu und halten es mit dem viel zitierten Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch …“, und sei’s erst mal ein bisschen Zeitgewinn oder ein Kombibahnhof!
Dagegen hilft, wie in den letzten Jahren, nur eins: Verbündete für unsern Kopfbahnhof suchen, aktiv auf den Straßen bleiben, beim Druck nicht nachlassen, sondern weiter zulegen!
Zeigen, dass sie uns nicht loswerden! Miteinander oben bleiben!
Übrigens hört sich das was Kuhn sagt nicht (mehr) nach „Ein Fehler der gemacht werden muß“ an – HIER
Habe den Beitrag von Tom Adler bis zum Ende gehört. Ich meine, er hat zum Schluss noch ein Erich-Kästner-Zitat angefügt, das ich dann gegen 22 Uhr überrachenderweise auch im ZDF-heute Journal von Elmar Tevensen in seinem Kommentar zu Grossprojekten verwendet hat:(es folgt Zitat aus ZDF-heute Seite)
Erich Kästner schrieb einmal: An jedem Unfug, der passiert, sind nicht nur die Schuld, die ihn begehen, sondern auch die, die ihn nicht verhindern. Das hat was mit Verantwortung zu tun. Die zu übernehmen, mag man altmodisch finden. Ich nenne es anständig – genau das wäre ein echter Rücktritt.(Ende des Zitats).
Tom Adler hat nur den letzten Satz in Bezug auf einen S21-Ausstieg anders formuliert – vielleicht kann man sein Zitat hier noch ergänzen.
Pingback: 155. Montagsdemo am 7.1. 2013: Endstation S21
Kuhn hat die schwere Aufgabe, einen Interessenausgleich in Stuttgart zu erzielen zwischen denen, die zu Recht gegen S21 sind und denen, die bisher meinten durch das Projekt zu gewinnen. Offenbar sinken aber auch die Gewinnaussichten für viele bei diesem Kostenzuwachs, der offenbar auch vor den Befürwortern verborgen wurde. Die Bahn wird sehr bald wie die Berliner Flughafengesellschaft ins Trudeln geraten und einige Persönlichkeiten mit sich reißen.
Bei dieser Gelegenheit könnte Kuhn bald unverhoffte Unterstützung erhalten. S21 wird eine Dynamik erfahren, die für den Widerstand gegen S21 auch gefährlich werden kann. Kuhn hat mit einem gewissen Selbstbewusstsein gesprochen, als ob er schon einen Schritt weiterdenkt.
Eine der überzeugendsten von vielen hervorragenden Montagsreden in den letzten Wochen!