Am Dienstag, 27. 11. 2012, jährte sich die „Volksabstimmung“ über das Kosten-Ausstiegsgesetz, ein Referendum, das vor einem Jahr die Stadt Stuttgart in Ja- und Neinsager gespalten hatte. Vom Ergebnis der Abstimmung hatten Politiker eine Befriedung der Stadt erhofft. Seitdem ist viel geschehen., vor allem an Zerstörung. Das Projekt S21 ist fragwürdiger denn je. Volker Lösch hat am vergangenen Montag, bei der 150. Montagsdemo, wunderbar vorgetragen, was allein im vergangenen Jahr seit dem Referendum bei der Bahn und S21 schief gegangen ist. Murks ohne Ende also.
Am gestrigen Dienstag nun gab es anlässlich des Jahrestags 27.11. eine Protestversammlung am Bauzaun am ehemaligen Nordflügel. 150 Demonstranten hatten sich trotz des Regens eingefunden, viele mit Transparenten und Plakaten, auf denen der Zorn über das fortwährende Unrecht ausgedrückt wurde. „Wir leben nicht in Stuttgart, um zu dem Unrecht zu schweigen“, sagte eine Demonstrantin. Das Motto des Tages stand auf einem großen Transparent: „Volksabstimmung = Volksbetrug – Baustopp sofort“. Auch ein altes Ja-Plakat zierte den Bauzaun.
Die Versorger standen mit heißem Kaffee, Kuchen und Gebäck dabei, die Musikgruppe Lokomotive trommelte, was das Zeug hielt. Es war nicht zu überhören, dass hier Menschen standen, die auf die Frage „Demonstriert ihr eigentlich immer noch?“, ganz klar mit Ja antworten und dies auch zeigen wollten. Präsenz an genau der Stelle, wo gearbeitet wird, denn im Hintergrund hörte man immer wieder Baustellenaktivität. „Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wer, wenn nicht wir?“ Drei Lastwagen, die sich einfanden, drehten nach kurzer Zeit wieder ab.
Auf die Protestierenden wartete ein vielfältiges Programm. Bewundernswert ist doch immer wieder, welche künstlerische Kraft in dieser Bewegung vorhanden ist. Chormusik und Rap, kritische Lieder und eine Rede zum Thema des Tages – es gab viel zu hören. Die Moderatorin hatte zu Beginn der Veranstaltung eine Rechnung aufgemacht: Eine Schulklasse wird gefragt, was 2 plus 2 ergibt, verbunden mit dem Hinweis, dass die 3 die Heiligste aller Zahlen sei und die 4 nur eine einfache Quadratzahl. Natürlich gaben alle Kinder 2 + 2 = 3 als Antwort an. Wie man doch mit symbol- und angstbehafteten Begriffen Menschen täuschen bzw. manipulieren kann! Auch der Liedermacher Thomas Felder aus Reutlingen begann seinen Beitrag mit einer Rechnung: „16 minus 8 sind 32.“ Man wusste, was er meinte. Dann spielte und sang er sein für S21 so blendend passendes Lied „Sodom – so dumm – und Gomorrah“. Die Musik- und Aktionsgruppe Lebenslaute erfreute mit einem A-cappella-Lied aus dem 16. Jahrhundert, dessen Text zeigte, dass es schon damals gleiche Probleme mit der Obrigkeit gab. Reiner Weigand, bekannt mit seinem Bananaboat-Song auf einer Montagsdemo im Juni 2010 und einer Rede auf dem 30.9.-Tribunal 2011, trug einen Rap zum Thema Klima vor, der in direktem Zusammenhang mit S21 stand.
Den Hauptvortrag hielt Dieter Reicherter, Richter im Ruhestand. „Guten Morgen, liebe Unentwegte“, begann er seine Ausführungen. „Ich weiß noch, wie wir letztes Jahr gezittert haben und wie es schief gegangen ist“. Das konnte jeder nachvollziehen und nicht wenige Umstehende murmelten „Boykott …“. Er zitierte ein Schreiben der Landeswahlleiterin vom letzten Jahr: „… Der Gegenstand des Volksentscheids war ausschließlich das S21-Kündigungsgesetz. Anders lautende Medienberichte ruhen auf der Pressefreiheit und sind rechtlich irrelevant…. Nachdem die Gesetzesvorlage die nach der Landesverfassung erforderliche Stimmenmehrheit nicht erreicht hat, hat sich insoweit auch keine Änderung der Rechtsgrundlage ergeben.“ Reicherter hatte den grün-roten Koalitionsvertrag mitgebracht und las auszugsweise daraus vor: „… dass die Spaltung in der Gesellschaft überwunden werden soll. … In diesem Zusammenhang erwarten wir von der Dt. Bahn AG, den Bau- und Vergabestopp zu verlängern und auch danach keine neuen Tatsachen zu schaffen, die mögliche Ergebnisse der VA konterkarieren. Die Landesregierung wird für vollständige Transparenz über Prämissen und Ergebnisse des Stesstests sorgen. … Überschreiten die Kosten des Projekts einschließlich der Kosten, die sich aus dem Stresstest und dem Schlichterspruch inclusive Gäubahn ergeben, den vereinbarten Kostendeckel von 4,5 Mrd. Euro, so beteiligt sich das Land an den Mehrkosten nicht. Dies gilt auch für das Risiko später auftretender Kostensteigerung.“ Noch Fragen? Die Antwort kann immer nur sein: Aufpassen, präsent sein, protestieren!
Um 8:45 Uhr wurde die Versammlung vor dem Bauzaun Stelle beendet, wurden die Transparente mitgenommen und es ging in einem langen Demozug durch den Bahnhof und über die Königstraße, vorbei am Neuen Schoss mit dem Finanzministerium (eine laute Minute Stopp) und vor das Rathaus. Hier tagte zu dieser Zeit der Technikausschuss des Gemeinderats und befasste sich mit dem Brandschutzkonzept für S21. Wobei man schon wieder beim Thema war.
Die Demonstranten beendeten ihre Protestaktion, die die klare Botschaft hatte: Das Referendum vor einem Jahr mit seinen auf Unwahrheiten und Lügen zustande gekommenen Ergebnis darf nicht als Legitimation und Rechtfertigung herhalten, S21 zu bauen. Das Referendum hat keine neuen rechtlichen Fakten geschaffen. „Alles andere ist Pressefreiheit“. Sagte einst die Landeswahlleiterin. Deshalb war der Protest am gestrigen Jahrestag des 27.11. mehr als notwendig.
Jahrestag 27.11 – Protest am Bauzaun
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