Von Josef H.
Vergangene Woche gab es am Amtsgericht einen Prozess zum Vorwurf „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ und „Nötigung“, einem Strafbefehl über 30 Tagessätze war widersprochen worden. Es ging um die GWM-Blockade zu Stuttgart 21 am 14.6.2011 (laut Polizei ca. 300 S21-Gegner, 112 davon wurden weggetragen bzw. weggeführt). Zum Prozess angereist waren unter anderem die beiden 33 bzw. 25 Jahre alten Polizisten, die den Angeklagten damals nicht hatten wegtragen wollen und ihn deshalb mit Schmerzgriffen malträtiert hatten, um ihn zum Gehen zu bringen. Als er ihnen trotz der Schmerzen den Gefallen nicht tat und sich schließlich zwei andere Polizisten erbarmen mussten, um ihn zu viert wegzutragen, zeigten sie ihn gleich noch wegen „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ an, von „immenser Gegenwehr“ war in einer der Aussagen die Rede. Er habe die Arme an sich gezogen, sei aufgestanden und habe sich fallenlassen und beim späteren Wegtragen weiterhin gewunden.
Der Ranghöhere der beiden meinte, er könne sich nicht erinnern, ob der Angeklagte vor Schmerz geschrien habe, das würden S-21 Gegner fast immer tun, es sei da sehr laut. Mit den Schmerzgriffen sei es halt schwierig wegen der Medien. Der Rangniedere sprach in seiner darauffolgenden Aussage nicht mehr davon, dass der Angeklagte aufgestanden sei, vielmehr habe er sich kniend nach hinten fallen lassen.
Zuvor hatte ein weiterer, lediglich aus Versehen aus Ravensburg geladener Polizist ausgesagt, er habe zwar die Anzeige aus den schriftlichen Aussagen der beiden Polizisten gefertigt, sei dem Angeklagten aber selbst nie begegnet. Auf die Frage, ob es ein Polizeivideo zum Vorfall gebe (eine filmende Polizistin stand während des Vorfalls dem Angeklagten direkt gegenüber) und was darauf zu sehen sei, meinte er, er habe da so viele Videos gesehen, dass er dazu nichts wisse. Passenderweise hatte der ebenfalls geladene Einsatzleiter der Polizei zuvor in der Verhandlung darauf hingewiesen, dass nicht immer gefilmt werde, wenn es so aussehe, als ob gefilmt werde. Der Angeklagte brachte schließlich seinen Wunsch zum Ausdruck, der Oberstaatsanwalt möge endlich sagen: „Da gehen wir hin und holen den Film raus.“
Als nach den Aussagen der beiden Polizisten zwar nicht vom Oberstaatsanwalt, sondern von der Verteidigung neue Bilder und ein noch unbekannter Film von dem Vorfall präsentiert wurden, war klar, dass die Vorwürfe nicht haltbar waren: Man sah auf dem Film keine Gegenwehr und vor allem sah man auch, dass der Angeklagte sich ganz ruhig hatte wegtragen lassen. Daraufhin wurde auf Vorschlag der Richterin mit Zustimmung des Oberstaatsanwalts der Vorwurf der Widerstandshandlung fallengelassen, allerdings ohne dass die Richterin oder der Oberstaatsanwalt zu den Falschaussagen Stellung genommen hätten. Mehr noch, beide hatten dem Verteidiger, der als Einziger in Anwesenheit des rangniederen Polizisten klare Worte zur Unglaubwürdigkeit von dessen Aussagen gefunden hatte, das Recht abgesprochen, die Aussagen da schon zu bewerten.
In seiner Schlussbemerkung vor dem Urteil hob der Angeklagte darauf ab, froh zu sein, dass mit Fotos von zwei verschiedenen Fotografen sowie eines Films von der gleichen Szene die Falschaussagen der Polizisten hätten nachgewiesen werden können, dass dies aber mangels Dokumentation wohl den wenigsten S21-Gegnern bei ihren Verfahren möglich sei - auch ein Aspekt bei der fortschreitenden Kriminalisierung des S21-Protestes. Die Richterin verurteilte wegen des übrig gebliebenen Tatvorwurfs der Nötigung, d.h. der Behinderung der Fahrzeuge bei der Einfahrt in die Baustelle, nach vier Stunden Verhandlung zu (wie es hieß: bei Wegtragen in Stuttgart üblichen) 15 Tagessätzen. Sie betonte in der Urteilsbegründung, dass es für die jungen Polizisten eine Zumutung sei, insbesondere schwere Personen wegtragen zu müssen. Dass man es auch jungen Polizisten zumuten müsse, die Wahrheit zu sagen und Demonstranten nicht durch Falschaussagen unter Täuschung des Gerichts und der Staatsanwaltschaft mit falschen Tatvorwürfen zu belasten, sagte sie leider nicht.
Epilog:
- Die beiden Polizisten hatten am 14.6.2011 Anzeigen gegen zwei Personen wegen Widerstandshandlungen gefertigt; dies ist besonders tüchtig, da es wohl die einzigen Widerstandsanzeigen bei dieser Blockade waren. Bei diesem Glück der Tüchtigen überrascht es nicht, dass inzwischen der Rangniedere der beiden ins schöne Konstanz versetzt, der Ranghöhere befördert worden ist.
- Der Angeklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Dazu gehören auch die Fahrtkosten des Polizisten aus Konstanz, der einen weiten Weg zu seiner Falschaussage auf sich nehmen musste.
- Es gibt sicherlich viele anständige Polizisten, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Und sicherlich gibt es Richter und Staatsanwälte, die sich auch von Polizisten Falschaussagen mit klaren Worten verbitten und so auf dem Respekt vor der Würde des Gerichts bestehen.
Pingback: BAA: Amtsgericht – Lügen und lügen lassen | SchaeferWeltWeit.de
Diesen Prozess werde ich noch lange in Erinnerung haben, weil er zwei Hauptthemen hatte, die (so wie der 30.9.) nicht richtig aufgearbeitet wurden und später die Aufmerksamkeit erlischt.
1. Hauptthema: ein angeblicher Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte.
Bewiesen wurde, dass die beiden Beamten von ihren ersten Aussagen Abstand nehmen mussten und am Schluss nichts davon übrig blieb. Sie wollten beweisen, dass sie den etwas schwereren Blockierer nur zu zweit wegschaffen können. Ohne Cameras hätten sie den Blockierer so gequält, dass er hätte aufstehen und mit ihnen gehen müssen. Sie gaben selbst zu, dass sie so ausgebildet sind und dies nur halbherzig angewandt hätten, weil so viel Öffentlichkeit anwesend war. Weil dies nicht gelang, kamen sie auf die Idee des „Widerstands“. Es ist leider anzunehmen, dass ihre Aussage durch einen dritten Beamten, der solche Anzeigen dann „formuliert“ noch „angereichert“ wurde. Ohne die Öffentlichkeit und nicht-polizeiliche Aufnahmen hätte der Angeklagte vor Gericht keine Chance gehabt. Dabei spielte der OstA H. eine unrühmliche Rolle. Während die Richterin schon früh erkannte, dass der Vorwurf nicht aufrechterhalten werden konnte, wartete der Staatsanwalt noch den letzten erdrückenden Beweis ab. Ob diese peinliche Beweiskorrektur ein Lehrbeispiel für die Beamten war, ist zu bezweifeln. Diesen war nur anzumerken, wie einseitig sie ausgerichtet sind, und zunehmend überfordert erschienen. Skandalös ist der Fakt, dass die Staatsanwaltschaft, die für eine angemessene Vorbereitung des Falls verantwortlich ist, nicht Anstalten trifft, das mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhandene Polizei-eigene Filmmaterial nochmal zu sichten und nach entlastetenden Sequenzen zu durchforsten. Dies vermindert das Vertrauen in einen Rechtsstaat.
2. Hauptthema: Die angebliche Nötigung von 9 Baufahrzeugen
Dass wegen der Blockierenden diese Baufahrzeuge nicht einfahren konnten, ist unbestritten, dass es sich aber um die verwerfliche Tat einer Nötigung durch den Angeklagten und dann auch Verurteilten handelte, ist nur ein Beweis einer Denkblockade von Staatsanwaltschaft und Gericht.
Dieser Fakt des Rechtsnotstandes in Stuttgart insbesondere unter Mitwirkung eines eloquenten Herrn OStA H. muss gerade hier näher beleuchtet werden:
Vor Gericht wurde durchaus erwähnt, dass die Baustelle zunächst durch den VGH gestoppt wurde, dass dann aber das EBA diesen Stop wieder aufheben konnte, Monate später stoppte der VGH dann die Bauarbeiten am GWM endgültig. Natürlich wurde auch erwähnt, dass es das GWM bis heut wohl nicht gäbe, hätten sich die DB AG in Punkto Abpumpmenge und Artenschutz und alle anderen Involvierten an die gesetzlichen Vorschriften gehalten. Staatsanwalt und Gericht wiesen nun aber darauf hin, dass der Angeklagte zu einem falschen Zeitpunkt blockiert habe, nämlich als die Bahn ihr Baurecht durch das Einwirken des EBA für eine bestimmte Frist wieder vollziehen konnte. Ihm wurde vorgeworfen, mit seinem Handeln eigenes Recht schaffen zu wollen.
Dieser Vorwurf ist aber gerade der Bahn zu machen. Natürlich geht das in das Denken der Anklagenden und Verurteilenden nicht hinein, aber die Bahn ist es, und das hat Richter a.D. Chr. Strecker ausführlich dargelegt, die ein hochwahrscheinlich unrechtmäßiges Projekt durch ständiges Faktenschaffen unumkehrbar machen möchte und so viel Schaden anrichtet und Investitionen verursacht, bis der unvernünftige Zeitpunkt der Erpressbarkeit des Staates überschritten ist.
Fazit:
Der Widerstands-Vorwurf brachte den Angeklagten durch schweres Verschulden der Staatsanwaltschaft in eine Defensive, aus der er durch Glück und viel Mühen wieder herauskam, ohne dass dies vom Gericht angemessen gewürdigt worden wäre.
Der Nötigungsvorwurf konnte aus formalen Gründen nicht ausgeräumt werden und eine Verfahrensaussetzung, um ein anhängiges VGH- bzw. Verfassungsgerichtsurteil abzuwarten, wurde natürlich auch nicht akzeptiert. Aber genau hier setzt die Notwendigkeit ein, insbesondere die Rechtsmisere des Faktenschaffens in den Focus zu nehmen. Hierfür fehlt diesem Rechtsstaat eine für den Bürger erreichbare Handhabe, das als schweres Unrecht angemessen bekämpfen zu können.
Unsere jetzige Handhabe kann nur der zivile Ungehorsam sein, der darauf abzielt, solches Unrecht anzuklagen und sei es mit der erklärten Haltung solche „Unrechts“-Urteile bewusst hinzunehmen, um die Öffentlichkeit aufzurütteln. An dieser Stelle ist aber auch der feine Unterschied zwischen Widerstand = Verhinderungsblockade und politischem Protest d.h. ziviler Ungehorsam, der einzig und allein eine Heilung planmäßig begangenen schweren Unrechts zum Ziel hat.
Optimismus und Pessimismus
An dieser Stelle möge sich jeder fragen, welche innere Haltung er/sie hat, wenn es darum geht, eine Baustelle zu blockieren, je nachdem kann eine ganz unterschiedliche Bewusstseinsverstärkung resultieren. In der Gerichtsverhandlung war nämlich durchaus zu bemerken, dass auch Herr OstA H. genau die rechtssetzenden Urteile von BGH und Verfassungsgericht kannte, die zB. auch eine Sitzblockade zunächst als eine von der Verfassung geschützte politische Versammlung in bestimmten Fällen zulassen. Es muss daran gearbeitet werden, von diesem Ansatzpunkt aus den Türspalt weiter in unserem Sinne zu öffnen. Am Donnerstag flog diese Tür wieder einmal krachen zu.
Ich erkläre mich übernhaupt nicht damit einverstanden, daß meine IP-Adresse nur zum Zweck der Spamvermeidung in den USA überprüft und gespeichert wird.
Echte Frage – muß zur Nötigung nicht jemand den Rückzugsweg der Bauleute zugestellt haben ? Hat mir ein Polizeibeamter mal so erklärt. Es sieht irgendwie danach aus als ob das Gericht verhindern wollte, daß der Vorfall zur Ordnungswidrigkeit abgestuft wird. Bei Kenntnis der Filmaufnahme hätte man sonst „Verfolgung Unschuldiger“ überprüfen müssen. Das Geschmäckle der Priorisierung die Strafverfolgungsbehörden unbeschädigt zu lassen vor einer angemessenen Tatwürdigung klebt jetzt wohl in Raum 001 .
Bei den Gerichtsprozessen entsteht der Eindruck für den Zuschauer, dass die mutmaßlichen Straftaten von Zeugen z.B. falsche Aussagen ohne Eid ein Kavaliersdelikt seien. Und ein Staatsanwalt schaut auch weg. Strafvereitelung im Amt fällt einem da als Möglichkeit ein.
Die sog. Ermittlungsverfahren zeigen ein Bild des chaotischen Arbeitens. Anders sind die Überraschungen bei den Prozessen nicht erklärlich, wenn so viele Fragen neu entstehen.
Warum eigentlich die USA hier einbezogen wird, ist mir doch ziemlich unklar. IP, ich dachte das heißt IM
Es ist in Stuttgart üblich geworden, dass die Staatsanwaltschaft noch einen „Nebentatbestand“ in Reserve hält, wenn sie mit dem Hauptvorwurf nicht durchkommt. Hier ist es die angebliche Nötigung. Leider ist es dem Gericht meistens ziemlich egal, in welchem Kontext und Bezug so eine Blockade steht, ob es Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe gibt. Seinerzeit stellte sich hochaktuell die Frage: Wer nötigt hier wen ?
Die Blockade vom 14. Juni fand zu einem sehr wichtigen Zeitpunkt statt. Damals forderte die Bahn vom Land ultimativ eine hohe Aufwandsentschädigung für eine Verlängerung des Baustopps – was einer politischen Nötigung gleichkam. Uns allen war klar, dass eine Aufhebung des Bau- und vor allem des Vergabestopps die Chancen für eine erfolgreiche Volksabstimmung stark verschlechtern würde. Die Landesregierung hat damals nach internen Auseinandersetzungen nachgegeben – kein Ruhmesblatt.
Ich habe damals auch blockiert und stehe dazu.
Wenn es uns nicht egal ist, in welchem Kontext wir blockieren und das öffentlich machen, dann wird es dem Gericht auch nicht egal sein. Wenn wir stetig zäh immer die gleichen Unrechtsfälle angreifen, dann höhlt steter Tropfen den Stein.
Die Landesregierung hätte:
1. die Mischfinanzierung durch ein Gericht prüfen lassen können.
2. die Offenlegung aller Kostenpläne der Bahn fordern können
3. den Rückbau der Kapazität zum Thema machen können
Ich denke, MP Kretschmann hätte kraft seiner Richtlinienkompetenz durchaus die Möglichkeit gehabt, den Weiterbau von S 21 bis zum Volksentscheid zu unterbinden. Dazu sollte er mit den Blockaden ja auch ermuntert werden.
Er wollte aber nicht – er wäre nämlich ein hohes juristisches und politisches persönliches Risiko eingegangen.
Die Cleverness der SPD-Idee „Volksentscheid bestand darin, dass beide Regierungslager bei einer Entscheidung des Souveräns mit beiden Entscheidungen leben konnten.
Kretschmann hätte bei einem Ergebnis, wie es nun auch eingetroffen ist, die politischen Konsequenzen ziehen müssen, hätte er sich vorher klar positioniert.
Nur: „Stuttgart 21“ heisst aus gutem Grund so und nicht etwa „Baden Württemberg 21“. Es ist zuvorderst ein kommunaler Konflikt, der das Land nur mittelbar betrifft.
Stuttgart war und ist eine Residenzstadt, in der das Schauspiel „Aufmüpfige Stadtkinder erheben sich gegen den König“ immer wieder neu inszeniert wird.
Jetzt halt mit grünem Landesvater.