„Wir lassen uns nicht in den Abgrund lenken – Sofort: Schluss mit der Stadtzerstörung“
Auch wenn die "Stuttgarter Zeitung" in ihrer Samstagsausgabe so tat, als haben sich nur ein paar wenige Demonstranten am Freitag vor dem Neuen Schoss eingefunden und somit die erfolgreiche und weithin (von anderen Medien) wahrgenommene Protestaktion schlichtweg verschwieg (oder verschlief), so soll dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Protest vielstimmig und laut war und lange andauerte. Mit vier Ansprachen konnten die Standpunkte der Gegner von S21 klargemacht werden, viele Banner, Transparente und Schilder zeigten, dass der Widerstand lebt und dass in kurzer Zeit an die 500 Gegner zu mobilisieren waren. Wolfram Klein hat uns einen sehr anschaulichen Bericht von der Protestaktion gegen den Lenkungskreis geschrieben:
Beim 2. Großen Ratschlag gegen Stuttgart 21 hatte die Blockadegruppe der Parkschützer die Idee eines Protests gegen den Stuttgart-21-Lenkungskreis in den Workshop zum Thema „Ziviler Ungehorsam und Blockaden“ eingebracht. Diese Idee fand Unterstützung und es wurde im Plenum des Großen Ratschlags, auf Flyern, bei der Montagsdemo und im Internet dafür Werbung gemacht.
Die erste Wirkung der angekündigten Aktion war, dass der Lenkungskreis kurzfristig vom Verkehrsministerium an der Hauptstätter Straße ins Finanzministerium im Neuen Schloss umgelegt (= umgelenkt) wurde. Trotz der kurzfristigen Ortsänderung versammelten sich laut Polizeiangaben 500 DemonstrantInnen vor dem Neuen Schloss. Ziemlich genau um 15.00 Uhr, eine volle Stunde vor dem geplanten Sitzungsbeginn, fuhr ein Auto-Konvoi, angeführt von einem Polizeifahrzeug, in den Innenhof des Neuen Schlosses. Umstehende DemonstrantInnen umringten das hinterste Fahrzeug und hielten Schilder mit Forderungen und Parolen vor die Windschutzscheibe. Andere versuchten mit dem Fahrgast, über dessen Identität gerätselt wurde – vermutlich ein Bahnvertreter –, zu diskutieren. Schließlich rückte die Polizei an und eskortierte das Fahrzeug rückwärts davon. Im Anschluss gab es eine unschöne Szene: Die Polizei drängte sich mit einen vorläufig festgenommenen Demonstranten mitten durch die Menge der DemonstrantInnen in den Innenhof des Neuen Schlosses und stieß dabei die Leute rüde beiseite. Der Festgenommene wurde später wieder freigelassen. Auf die Lautsprecher-Durchsage, dass der Festgenommene eine Anzeige wegen Beleidigung erhalte, weil ihm zur Last gelegt werde, „Große Klappe, nichts dahinter“ gesagt zu haben, stimmten Hunderte den Sprechchor „Große Klappe, nichts dahinter“ an.
Parallel dazu fanden Reden per Megaphon statt. Als erste Rednerin sprach Ursel Beck von der Blockadegruppe der Parkschützer. Sie kritisierte, dass MP Kretschmann und Minister Hermann den undemokratischen und intransparenten Charakter des Lenkungskreises akzeptieren. Stuttgart 21 selbst stellten sie seit der Volksabstimmung nicht mehr in Frage, sondern sie wollten das Projekt nur noch verbessern. Dieses Projekt sei aber völlig zerstörerisch und lasse sich nicht verbessern. Minister Hermann reagiere auf die Kannibalisierung des Nahverkehrs und die drohende Streichung von 9 Mio Zugkilometern im kommenden Winterfahrplan mit der Forderung nach mehr Geld für sein Ressort statt nach dem Stopp von Stuttgart 21. Wegen der Schuldenbremse würde das Geld dann aber anderswo gestrichen. Das dürfe nicht akzeptiert werden. Das Geld für den Nahverkehr müsse durch den Ausstieg aus Stuttgart 21 geholt werden. Im Anschluss sprach Frau Prof. Yvonne P. Doderer, Architektin und Vertreterin der Initiative „Recht auf Stadt – Stadt für alle“.
Hans Heydemann von den „Ingenieuren 22“ berichtete von den von ihnen entdeckten Unterlagen, dass Stuttgart 21 von Anfang an als Rückbau des Bahnverkehrs konzipiert war.
Eisenhart von Loeper, einer der vier Sprecher des Aktionsbündnisses, ging ebenfalls darauf ein und erläuterte die rechtlichen Folgen: Ein solcher Rückbau dürfe nicht mit Steuergeldern finanziert werden.
Nach der Kundgebung bildete sich ein spontaner Demonstrationszug zum Ostflügel des Neuen Schlosses, in dem der Lenkungskreis tagte. Die Polizei versuchte den Weg zu versperren. Daraufhin spazierten Hunderte DemonstrantInnen durch das Gebäude des Württembergischen Kunstvereins um die Polizeiabsperrung herum und vor den östlichen Seitenflügel des Neuen Schlosses. Die Verlegung des Lenkungskreises führte dazu, dass der Protest viel mehr Öffentlichkeit hatte als er vor dem Verkehrsministerium gehabt hätte – bis hin zu ausländischen TouristInnen, die von der internationalen Berichterstattung über unseren Widerstand erzählten und uns Erfolg wünschten.
Eine große Zahl von DemonstrantInnen harrte noch stundenlang vor dem Neuen Schloss aus und begleitete den Lenkungskreis lautstark. Schließlich wurde das Auto von Bahnvorstand Kefer durch sitzende und liegende DemonstrantInnen blockiert. Sie wurden von der Polizei weggeführt oder weggetragen. Die Polizei erhielt den Befehl zum Schlagstockeinsatz. Drei Polizisten folgten dem Befehl, die anderen ließen ihren Schlagstock stecken. Herr Kefer verließ das Gebäude durch einen Hinterausgang und ließ sich später von seinem Fahrer an anderer Stelle abholen. Ein Demonstrant wurde wegen angeblichen Widerstands gegen die Staatsgewalt festgenommen.
Im Vorfeld hatte es einige Kontroversen in der Bewegung gegen Stuttgart 21 über die Absicht gegeben, den Lenkungskreis nach Möglichkeit zu blockieren. Dabei ging es weniger um das Für und Wider von Blockaden generell, sondern darum, ob es im Interesse der Bewegung ist, dass der Lenkungskreis tagt. Was wirklich im Lenkungskreis diskutiert wurde, können wir nicht wissen, weil das Treffen laut Satzung vertraulich ist. Die offiziell bekanntgegebenen Ergebnisse sind: eine Kostensteigerung von 240 Millionen Euro und eine Verschiebung der Fertigstellung des Projekts um ein Jahr. Beides war vorher schon bekannt gewesen. Dafür brauchte Volker Kefer sich nicht von Frankfurt nach Stuttgart chauffieren zu lassen (wohl gemerkt: im Auto, denn die Bahn-Gewaltigen pflegen die Bahn selber nicht zu nutzen).
Laut Medienberichten blieb umstritten, wer die Kosten von 72 oder 80 Millionen bezahlt, die sich aus dem Schlichterspruch ergeben. Die Bahn bot an, die Kosten zu übernehmen, „sofern bei Projektende genügend Reserven vorhanden sind“. Warum bieten sie nicht an, dass sie vergrabene Schätze, auf die sie beim Tunnelbohren stoßen, dafür verwenden? Das dürfte ähnlich wahrscheinlich sein wie das Vorhandensein von Reserven bei Projektende.
Verkehrsminister Hermann verweigerte wegen diesem Dissens einen formalen Beschluss über die Kostensteigerungen. Heißt das, dass er im Lenkungskreis die Anliegen der S21-Gegner vertreten hat? Wenn der Kommentator der „Stuttgarter Zeitung“ an ihn appelliert, sich „von den gewieften Taktikern der Bahn“ nicht einwickeln zu lassen, sondern „Sachwalter der Steuerzahler zu sein“, dann muss man für eine solche Haltung kein langjähriger Gegner von Stuttgart 21 sein. Teile der Bewegung gegen Stuttgart 21 hofften, dass der Lenkungskreis Kostensteigerungen bekannt gibt, nicht dass Hermann die formelle Feststellung von Kostensteigerungen verhindert. Und: Der Dissens, wer die Kostensteigerungen bezahlt, verzögert die Zerstörungen durch den Bau von Stuttgart 21 um keine Minute. Stattdessen werden jetzt teure Beraterfirmen engagiert, die nach Einsparmöglichkeiten suchen sollen. Sind eigentlich die Einsparungen, mit denen 2009 die offiziellen Kosten von 4,9 auf 4,1 Milliarden Euro gesenkt wurden, inzwischen planrechtlich genehmigt? Wir haben allen Grund zur Sorge, dass diese zusätzlichen Einsparungen zu Lasten der Sicherheit der Reisenden gehen werden.
Fazit: Beim Lenkungskreis ist nichts im Sinne der Bewegung gegen Stuttgart 21 herausgekommen. Die Blockade des Lenkungskreises wäre demnach völlig berechtigt gewesen. Auch wenn eine Blockade des Neuen Schlosses mit seinen zahlreichen Eingängen nicht praktikabel war, so war der Protest doch eine rundum gelungene Aktion.
Wolfram Klein