Wähler fragen: Kommt MP Kretschmann womöglich das Ergebnis des Volksentscheids gerade recht – als Rettung des Koalitionsfriedens?

Stuttgart, 09.02.2012 Offener Brief der „Theolog/innen gegen Stuttgart 21“ an den Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg Winfried Kretschmann

Unterbrechen Sie die S21-Zerstörungsarbeiten – im Interesse des Landes! Werten Sie nicht den Volksentscheid höher als die Schutzrechte der Bevölkerung!

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann!
Ich kann und mag nicht glauben, dass Sie das wirklich glauben, was Sie nun in Facebook zu Stuttgart 21 geschrieben haben. Sie erwecken in Ihrem Brief den Eindruck, als ob das Ergebnis eines Volksentscheids über dem Gesetz stehen könnte und Sie in höherem Maße binde als all das, was nicht nur Sie, sondern jeden Ministerpräsidenten und jede Landesregierung in erster Linie bindet: Sie müssen auf die Wahrung des Rechts achten und darauf, dass kein Projekt-„Partner“ des Landes die Bevölkerung übervorteilen kann.

Sie wissen: Es gibt zahlreiche – bislang von niemandem widerlegte – Belege dafür, dass der „Stresstest“ nur durch Betrug von der Bahn „bestanden“ wurde.
Sie wissen, dass damit die Rechtsgrundlage für die gesamten S21-Verträge und all die Ausnahmegenehmigungen entfällt.
Sie wissen, dass die Bahn keine grundsätzliche Genehmigung hat, den denkmalgeschützten Bahnhof abzureißen, sondern eine Genehmigung, die unter der Voraussetzung erteilt wurde, dass ein höherer Wert – nämlich der verkehrliche und Infrastruktur-Nutzen des Projekts – überwiegt. Genau dies ist aber nicht mehr gegeben, wenn die Verkehrsleistung von S21 nicht 30% mehr, sondern über 30% weniger beträgt. Für einen Rückbau der Schieneninfrastruktur hat die Bahn keine Genehmigung erhalten,
die Bahnhofsflügel abzureißen. Das gleiche gilt für die Fällung der Bäume im Schlossgarten.
Sie wissen, dass die Bahn bislang keinerlei Anstalten gemacht hat, die in der sogenannten „Schlichtung“ mit ihrer ausdrücklichen Zustimmung vereinbarten Bedingungen zu erfüllen (keine Fällung von gesunden Bäumen, Anbindung der Gäubahn, Notfallkonzept für die Tunnels, Barrierefreiheit…)
Sie wissen, dass die Bahn nun zum dritten Mal ihre Annahmen zur Grundwassersituation und ihre entsprechenden Planungen zum Grundwassermanagement ganz grundsätzlich verändert hat und dass es deshalb möglich ist, dass sie auf Dauer gar keine genehmigungsfähige Planung zustande bekommt.
Sie wissen, dass noch erhebliche Teile der S21-Planung so weit von einer Genehmigung entfernt sind, dass fraglich ist, ob sie jemals umgesetzt werden können.
Sie wissen, dass Sie selbst die Kofinanzierung des Projekts durch Land, Stadt und Bahn als verfassungswidrig bezeichnet haben.
Sie wissen, dass die Kosten für S21 auf jeden Fall 4,5 Mrd. überschreiten werden und dass dafür von keiner Seite aus eine Zusage der Kostenübernahme besteht und dass deshalb die Landesregierung mit jeder zusätzlichen Zerstörungs- und Baumaßnahme immer größerem Druck ausgesetzt wird, sich einer Beteiligung – trotz aller gegenteiligen Bekenntnisse – nicht entziehen zu können.
Sie wissen, dass 43% derer, die beim Volksentscheid gegen einen Ausstieg aus S21 votiert haben, dies aus „Angst vor Ausstiegskosten“ getan haben (laut einer Erhebung des SWR) – nicht, weil sie den Bahnhof wollen.
Sie wissen, dass die im „Informations“-Prospekt der Landesregierung zum Volksentscheid behaupteten 1,5 Mrd. Ausstiegskosten zulasten des Steuerzahlers nicht eine mögliche Meinung, sondern nachweislich falsch sind (schon allein, weil die Hälfte davon wieder an den Steuerzahler zurück fließen würde, nämlich an die Stadt Stuttgart).
Sie wissen, dass deshalb der Volksentscheid kein „Leuchtturm der Demokratie“ war, sondern ein mit vielen Millionen aus Wirtschaft und Verbänden erkaufter Betrug derer, die sich so hohe Kosten für Werbung und Irreführung eben leisten können.
Sie wissen, dass das Ergebnis des Volksentscheids rechtlich noch gar nicht bindend ist, weil noch 16 Beschwerdeverfahren dagegen anhängig sind.
Sie wissen, dass beim Volksentscheid auch auf der NEIN-Seite kein Quorum von 33% zustande gekommen ist – das Voraussetzung dafür wäre, es mit staatsmännischer Geste als „Gesetzgebungsverfahren“ zu bezeichnen, gegen das sich ein Ministerpräsident nicht stellen darf.
Sie wissen, dass – auch unabhängig vom Quorum und von den Klagen dagegen – der Volksentscheid rechtlich gänzlich irrelevant ist, weil er ganz einfach nur gescheitert ist und damit nichts anderes passiert ist, als dass die ursprüngliche Rechtslage wieder hergestellt ist, nämlich: Das Land ist NICHT VERPFLICHTET, die S21-Verträge zu kündigen. Nicht mehr und nicht weniger.

Angesichts all dieser Punkte erwarte ich von Ihnen als Ministerpräsident:
Setzen Sie nicht all Ihre Argumentationskunst ein, um zu begründen, warum Sie sich „als Demokrat“ an den verlogenen, gekauften und juristisch irrelevanten Volksentscheid halten müssten! Sondern legen Sie Ihr ganzes politisches Geschick darein, in all den genannten Punkten nachzuhaken, Gerichtsverfahren anzustrengen oder zu unterstützen, weitere Schritte, Genehmigungen, Zahlungen des Landes an die Aufklärung von Sachverhalten zu knüpfen usw.!

Dass die von Ihnen behauptete kritisch(!)-konstruktive Begleitung so gar nicht erkennbar ist – das lässt viele Ihrer Wähler fragen: Kommt Ihnen womöglich das Ergebnis des Volksentscheids gerade recht – als Rettung des Koalitionsfriedens?

Niemand erwartet von Ihnen, dass Sie sich morgen früh hinstellen und sagen: Wir beenden S21. Aber von Ihnen – wie von jedem Ministerpräsidenten, unabhängig davon, ob er für oder gegen S21 ist – ist zu erwarten, dass er alles Erdenkliche unternimmt, um Schaden vom Volk abzuhalten, und dass er deshalb dem Druck der Bahn (wie gegenüber jedem anderen Geschäfts„partner“ des Landes) im Interesse des Landes entsprechenden Gegendruck entgegen setzt, Bedingungen formuliert, Gelder und Zugeständnisse zurückhält, mit Gerichtsverfahren droht – eben Politik macht und nicht nur Worte.
Natürlich ist es nicht einfach, gegen den Mainstream der wirtschaftsgesteuerten Meinungsmache anzuregieren.

Wir brauchen aber – auch auf Bundesebene – keine weitere Partei, die (wie seit langem auch die SPD) in ihrer Politik die Interessen der Bevölkerung den Interessen der Wirtschaft unterordnet. Wir brauchen eine Partei und Politiker – dafür wurden die Grünen gewählt –, die politikfähig sind und nicht zu Handlangern der Wirtschaftslobby verkümmern, sobald die ersten Widerstände auftreten – innerhalb der Koalition oder außerhalb vonseiten der Opposition und der S21-Lobby.

Ich appelliere an Sie als Vertreter einer Umwelt- und Bürgerrechtspartei:
Riskieren Sie nicht durch Ihre Tatenlosigkeit den guten Ruf der Grünen!
Setzen Sie nicht durch eine Unterwerfung unter die Wirtschaftslobby eine zweite Mehrheit für das Grün-Rote Regierungsprojekt aufs Spiel!

Für die Bäume im Schlossgarten ist es eine Minute vor zwölf.
• Noch ist Zeit, umzusteuern.
• Noch können Sie – gänzlich, ohne „undemokratisch“ zu sein – die S21 Zerstörungsarbeiten unterbrechen, bis klare Rechtsgrundlagen herrschen für die Umsetzung dessen, was Sie (wirklich?) für den Willen der Bevölkerung halten.
• Noch können Sie zeigen, dass für Sie das (sogar nur partielle) Baurecht der Bahn nur ein Recht unter vielen ist und nicht als Joker alle Rechte der Bürger dieses Landes schlägt.
• Noch können Sie zeigen, dass Sie Mehrheitsentscheidungen (egal, wie sie zustande gekommen sind) nicht als Ersatz dafür nehmen, regieren zu müssen.

Es grüßt Sie, Martin Poguntke

Dieser Brief wird namentlich unterstützt von:
Eberhard Dietrich, Friedrich Gehring, Michael Harr, Gunther Leibbrand, Guntrun Müller-Ensslin, Wolfgang Schiegg, Martin Schmid-Keimburg, Dorothea Ziesenhenne-Harr

Mail: martin.poguntke@online.de
www.s21-christen-sagen-nein.org
www.s21-christen-sagen-nein.de
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