Vorauseilender Gehorsam – eine Untugend wird belebt

Beobachtet und kommentiert von Petra Brixel

Rund um das Bahnprojekt Stuttgart 21 ist eine überwunden geglaubte Untugend zu beobachten: der vorauseilende Gehorsam. Und dafür mangelt es nicht an erschreckenden Beispielen. Die Absperrung des Südflügels des Bahnhofs und die vorherige Räumung von 600 Demonstranten durch fast 2000 Polizisten, die - ohne baufortschrittliche Notwendigkeit - im Auftrag von Bahn oder Landesregierung (oder wem eigentlich?) das höchst wackelige Baurecht der Bahn dienstbar unterstützten, ist das jüngste Beispiel. Vorauseilenden Gehorsam nennt man das, eine eher in der Kaiser- und Gutsherrenzeit angesiedelte Eigenschaft. Es ist lt. Wikipedia die „… freiwillige Vorwegnahme eines vermuteten erwünschten Verhaltens.“
Zwei weitere Exemplare dieser in Stuttgart zur Hochblüte sich erhebenden voreiligen Befolgung von Anweisungen sind derzeit zu konstatieren: in Form einer Anordnung des Amts für öffentliche Ordnung und auf einem Stadtplan der Stuttgarter City, herausgegeben von der Tourist Information i-Punkt.   
Im ersteren Fall geht es um das Aufenthalts- und Betretungsverbot bei Räumung des Zeltdorfs und bei den polizeilichen Maßnahmen zur Errichtung des Baufelds. Die Dienststelle für Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsangelegenheiten wendet sich in einem Schreiben vom 29.12.2011 an die Fußgänger und Radfahrer, und bittet „… um Verständnis für die kurzzeitigen Unannehmlichkeiten, die durch die polizeilichen Maßnahmen entstehen.“ Gern geschehen, möchte man da zynisch antworten. Aber noch viel zynischer werde ich beim Lesen des ersten Satzes dieses Briefes. „Sehr geehrte Damen und Herren, die Mittleren Schlossgartenanlagen gehören zwar dem Land Baden-Württemberg, sind aber trotzdem öffentlich zugänglich,“ heißt es da. Ich lasse mir diesen Satz auf der Zunge zergehen und stutze. Ach ja, wirklich? Gehört zwar … und trotzdem darf ich darin spazieren …  Ich nehme den Tatbestand auseinander: Der Schlossgarten gehört dem Land Baden-Württemberg.  Stimmt. Ich dachte bisher, Baden-Württemberg,  das sind wir Bürger. Ich habe mich wohl geirrt, denn durch die beiden Worte „zwar“ und „trotzdem“ merke ich, dass die Bürger eigentlich gar nicht das Recht hätten, den Park zu betreten, dass ihnen das Recht bislang jedoch gnädigerweise zugestanden wurde. Das Land Baden-Württemberg hätte also wie im 17. Jahrh. auch einen hohen Zaun darum machen können. Danke, sage ich mit Inbrunst, ich wusste gar nicht, dass ich bisher nur gnadenhalber im Park war. Ich hätte ja auch ausgeschlossen sein können, so wie ich nicht ohne wichtigen Grund das Neue Schloss, die Villa Reizenstein oder andere Gebäude Baden-Württembergs betreten darf. Zugegeben, es ist schwer, eine bürgerfeindliche Anordnung zu begründen. Da  greift man dann gern mal zu der Sprachform eines  gönnerhaften Gutsherren. Ganz zu Diensten.
Im zweiten Fall handelt es sich um einen im Format DIN A3 herausgegebenen Stadtplan der Stuttgarter City mit optisch ansprechender 3D-Darstellung der wichtigsten Gebäude, die ein Tourist besuchen sollte. Dass das Schauspielhaus neben der Oper fehlt, sollte uns nicht weiter erschrecken, wäre aber wohl eine Nachfrage wert. Dass aber der Südflügel des Bahnhofs fehlt, sollte als Dreistigkeit wahrgenommen werden. Einfach weg! Dabei steht der Südflügel nach wie vor sehr fest und es kann durchaus sein, dass er noch sehr lange stehen wird. Aber auf dem Plan ist er einfach nur – weg. Also, der reduzierte Bahnhof mit zehn (!) Gleisen, Park und ohne Glupschaugen, aber auch ohne Seitenflügel. Ich sage nur „Unverschämtheit, Frechheit“! Da erdreistet sich die Tourist Information i-Punkt, den Touristen und auch Stuttgartern eine Lügenkarte in die Hand zu drücken. Der Bahnhof ist in der Stuttgart-Werbung bereits amputiert! Dies ist eine ganz besonders subtile Art  von vorauseilendem Gehorsam, von Unterwürfigkeit unter das Diktat, vollendete Tatsachen zu schaffen.  Das hat nichts mit politischer Korrektheit zu tun, das ist einfach nur Untertänigkeit. Bei Wikipedia finde ich noch die abschließende Bemerkung: „ Der vorauseilende Gehorsam macht auch politisch totalitäre Systeme möglich. In diesem Zusammenhang ist der vorauseilende Gehorsam weniger Feigheit als mangelnde Zivilcourage.“  In diesem Sinne gehe ich heute noch lieber zur Montagsdemo.

 

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7 Antworten zu Vorauseilender Gehorsam – eine Untugend wird belebt

  1. Colère sagt:

    Bravo Petra! Ich komm auch! Was nützt es, wenn Grüne an der Regierung sind, wenn sie grüne Politik nur in der Opposition machen? Da hilft nur eines: Indignez-vous! Engagez-vous! Mit allen Mitteln! Entlarvt die Lügen, wo ihr könnt! Es geht um unser aller Wohl! Es geht, um noch einmal Stéphane Hessel zu zitieren darum, den „perversen Lauf der blinden Politik, die uns in Katastrophen führt, anzuprangern!“ Kretsche ist eine einzige Enttäuschung, sein schäbiges Verhalten ist unerträglich. Schuster sowieso, aber da hat man´s gewusst, bei Kretsche konnte man es nicht wissen, das ist die Sauerei! Aber dass die Grünen im Landtag und im Gemeinderat mitmachen, die Stadt versauen zu lassen und jetzt – viel zu spät – als Alibi Pressemitteilungen herausgeben, den Südflügel nicht vor der Zeit abzureißen, wo sie vorher bei allem zugestimmt haben,z.B. dass die Heilbronnerstraße für Baumaßnahmen freigegeben wird und vieles mehr, die ganze Tragödie mit Röhre,Bahndirektion usw. , es ist erbärmlich, wie verlogen die alle sind! Und dass sie Kretsche nie an seine eigenen Versprechungen erinnert haben: In Stichworten: Verfassungswidrigkeit, arglistige Täuschung, Kostendeckel, erst vollständige und erlaubte Pläne, Wegfall der Gschäftsgrundlage und und und

  2. Erika sagt:

    Genauso ist es. Wir müssen Stickelberberger, Gall, Kretschmann, und anderen S21- Verfechtern permanent in den Ohren liegen. Auch der BUND muss gefordert werden, dass er die Einhaltung des Gerichtsurteils des Mannheimer Verwaltungsgerichtshofes durch die Bahn am GWM einfordert, denn dort wird wahrscheinlich von Hölscher permanent weitergebaut, obwohl alle Arbeiten ruhen müssen. Ich habe entsprechende Beobachtungen weitergegeben bei BUND und den Grünen, sowie bei BAA. Was am skandalösesten ist, dass die Landes-Polizei nicht die Arbeiten unterbindet, sondern das rechtswidrge Weiterbauen trotz anderslautendem Gerichsurteil wahrscheinlich fördert!!!!
    Vor allem Kretschmann, weil seit 2009 unter Oettinger Kosten bei S21 von 6,5 Milliarden bekannt sind! Warum werden dann immer noch 4,4 Milliarden kommuniziert?! Somit war der VE allein deswegen völlig sinnlos, weil die Kostenobergrenze schon seit 2009 gerissen ist!!!!!!!!!!!!!
    Sofort aus diesem Grund die Beendigung von S21 oft und lautstark vor der Villa Reitzenstein fordern!!!!
    Wir müssen jetzt richtig Gas geben, damit S21 vollends beendet wird!!!
    Juristen, die Ihr das lest, hängt Euch dran und kontaktiert die in Frage kommenden Gerichte!!!!!

  3. Ingo Neitzke sagt:

    Sehr gute Diagnose zum stumpfsinnigen Gleichschritt der Bevölkerungsmehrheit. Und wieder passend zu
    “Was wäre eigentlich normal gewesen?” von Schmittmann-Coaching.de/15.html

  4. hajomueller sagt:

    Liebe Widerständler,
    dass Kretschmann tickt wie er tickt, wusste man, wenn man kein Träumer war. Und wie sein Fußvolk tickt, zeigt eine Antwort auf mein Mail an Peter Pätzold, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Stadtrat. Er schreibt:
    „Die Volksabstimmung über das Projekt ging über ein ja oder ein nein zum
    Projekt. Das war jedem und jeder klar. Auch Sie wissen, dass die Abstimmung
    über das Kündigungsgesetz nur ein Behelf war, um eine Volksabstimmung zu
    machen.
    Die Landesregierung hat nun das eindeutig Votum für das Projekt. Mit all
    seinen Nachteilen.
    Das wusste aber auch jeder. Wir sind land auf und land ab gefahren und
    haben die ganzen Fakten auf den Tisch gelegt. Aber einer Mehrheit war das
    egal, da haben die Parolen mit den Mehrkosten und der Zukunft gewirkt. Ist
    leider so.
    Deshalb muss die Landesregierung die Verträge erfüllen. Auch weil die SPD
    als Teil das eh schon sowieso will. Damit muss es auch der MP tun.
    Und in den Verträgen steht leider nicht, dass zu Baubeginn erst alle
    Planungen vorliegen müssen etc. Also gibt es keine rechtliche und
    politische Möglichkeit darauf zu bestehen. Wenn die Bahn ein Planrecht hat,
    auch wenn das fehlerhaft ist, kann das Land nichts machen.“
    Nun wisst ihr, wie uns die Grünen reingelegt haben. Das Fussvolk sammelt die Widerständler ein und die Oben krallen sich an die Macht.

    • Colère sagt:

      Es ist erbärmlich! Und trotzdem kann ich mich dem nicht entziehen, dass wir nur etwas erreichen, wenn wir den GRÜNEN und ihrem Kretsche immer wieder sagen, was zu tun ist, insbesondere sich für Einhaltung von „Recht und Gesetz“ (siehe Sonderausgabe „Bahn für Alle“)einzusetzen, d.h. Kretsche immer wieder den eigenen Spiegel vorhalten. Kretsche weg oder Ähnliches hilft uns nicht weiter. Und dann natürlich Präsenz zeigen, das ist viel wert, wenn wir immer noch 4000 sind und wieder mehr werden, wenn wir also nicht von der Straße weggetrickst werden können. Und schließlich alles, was juristisch drin ist, unterstützen, anregen, finanzieren….

    • K. Neumann sagt:

      Danke Herr Müller, die hier von Ihnen zitierte Anwort von Herrn Pätzold ist dann doch sehr informativ und erlaubt ein abschliessendes Urteil zur „günen“ Politik zu S21! Aber ich würde ihm trotzdem antworten und in dieser oder jener Form das VGH Urteil zum GWM unter die Nase reiben, und fragen, ob er und die Grünen sich weiterhin im untertänigstem Gehorsam gegen über der Landes-SPD üben oder nicht endlich ihre eigene Politik und die ihrer Klientel vertreten wollen, zu deren Gestaltung das VGH-Urteil zum GWM dienen könnte, müsste, sollte, würde….. Also hier wäre dann ein Vorschlag durch den Beitrag von „waihdag“ auf SWR, wie Herr Pätzold besser argumentieren sollte und über den Sie ihn fragen sollten, wie er es mit einer solchen Position hielte:
      „Ist der Abbruch des Südflügels derzeit zulässig?
      (waihdag) 13.01.2012 , 10:41
      Der Abbruch des Südflügels wurde im Planfeststellungsbeschluß ausschließlich mit dem Bau von Stuttgart 21 begründet und genehmigt. Im Widerspruch zu dem von der Bahn ständig betonten vorhandenen Baurecht hat der VGH in der Urteilsbegründung zur Rechtswidrigkeit der Zentralisierung des GWM folgendes festgestellt: „Die Beigeladene (Bahn) selbst ist es, die den bestandskräftigen Planfeststellungsbeschluss mit einer beantragten Planänderung ein Stück weit zur Disposition stellt. Denn jedes Planänderungsverfahren führt zwingend dazu, dass über die Zulässigkeit der zu ändernden Anlagenteile unter Zugrundelegung der aktuellen – und gegenüber den Jahren 2005/2006 möglicherweise geänderten – Sach- und Rechtslage entschieden werden muss.“ Diese Sichtweise muß selbstverständlich auch für die beantragte Verdoppelung der abzupumpenden Grundwassermenge und für die beantragte Planänderung für den Fildertunnel gelten, die beide noch nicht genehmigt sind, ganz zu schweigen vom Planfeststellungsabschnitt 1.3 auf den Fildern, dessen Genehmigung noch völlig unbestimmt ist. Da zudem das Baumfällverbot vom 5.10.2010 bisher nicht aufgehoben ist, kann sich die Bahn derzeit auf keinerlei Baurecht berufen und der Bau von Stuttgart 21 kann aufgrund der fehlenden Genehmigungen auch nicht als gesichert angesehen werden. Solange die ausstehenden Genehmigungen nicht vorliegen, müsste folgerichtig aufgrund der beantragten Planänderungen damit auch die rechtliche Grundlage für den Abriss des Südflügels entfallen sein.“
      l.c. http://www.swr.de/nachrichten/bw/-/id=1622/vv=comments/gp5=5/nid=1622/did=9131366/14nnlqj/index.html

      Ich vermute nur und die bereits von Ihnen zitierte Antwort Pätzolds belegt es, die Grünen haben die, die sie gewählt haben, „vergessen“, weil sie es, der Politikwechsel zu S21 belegt es, schon immer auf die Klientel von Hauk und Strobl abgesehen hatten und diese wohl für sie der sicherere Hafen für die Macht sind, an der sie jetzt für jedermann offensichtlich kleben wie Wulff an seinem Stuhl durch einen gelegen kommenden vorauseilenden politischen Gehorsam gegen über der SPD, mit dem man mit dieser politisch ohne anzuecken nun fürbass zu schreiten vermag. Als Begründung dann ein charakterloses und verlogenes sich Berufen auf eine VA, nicht nur wie hier von Pätzold vorgetragen sondern auch vom MP, die der Regierung keinen gesetzlich bindenden Auftrag erteilt hat.

      Das Geschrei der Grünen im Landtag, dass die Bahn zu einem Aufschub der Abrissarbeiten am Südflügel auffordert, ist daher nur als Angstgeschrei im Hühnerhof um das Futter sprich Plätze im Landtag zu verstehen. Und das ist ein für alle mal zu wenig, um wiedergewählt werden zu können.

  5. Reini sagt:

    Bei der Montagsdemo am 16.Jan. Hat Pfarrer. i. R. Friedrich Gehring die Bibel zu Hilfe genommen.
    Bei Radio Utopie ist es zu lesen. Ich habe mir auch so meine Gedanken gemacht:

    Würde Jesus heute nochmal auf diese Welt kommen, er würde eingesperrt, gefoltert und getötet….es würde sich alles wiederholen!
    Nehmen wir doch mal Kretschmann als Pilatus und die S21 Gegner als Gegenspieler zu den Mächtigen.
    Den Reichen und Mächtigen ist Jesus ein Dorn im Auge, weil er ihre Schandtaten und ihr GIER offen legt! Dabei ist es unerheblich dass Jesus…so wie der Gegner von S21….friedlich sind. Sie zeigen Verfehlungen und Verbrechen der Regierung und Wirtschaft auf….dies allein kann schon gefährlich für die Ausbeuter werden!

    Also muss man versuchen Jesus zu denunzieren und gegen ihn hetzen, so dass man ihn ans Kreuz nageln kann. Jeder kennt die Geschichte als Pilatus sich unsicher ist, wie er sich aus seinen Gewissensnöten befreien kann. Er kann in Jesus Predigten kein Verbrechen erkennen, da er doch die Wahrheit sagt und nichts mit Gewalt am Hut hat. Gleichzeitig will Rom diesen lästigen Wahrheitssucher los werden.
    Wie gut, dass es damals anstatt Zeitungen große Volksversammlungen gab und um Stimmung gegen Personen zu machen, musste man nur eine größere Anzahl von Hetzern bezahlen, die sich unters Volk mischten um Stimmung gegen bestimmte Personen zu machen.

    Pilatus brauchte dann nur zu fragen WEN man frei lassen sollte…den Mörder , oder Jesus. Das Ergebnis ist bekannt. Und glaubt mir, heute funktioniert es noch genau so!

    Pilatus hat seine Hände mit Wasser rein gewaschen und kretschmann versteckt sich hinter der NIE zu gewinnenden Volksbefragung!
    Ich will nun bestimmt nicht die Gegner von S21 mit Jesus vergleichen, aber der Ablauf der Verunglimpfung und Denunziation ist der gleiche.
    Wer den Mächtigen und Reichen in die Quere kommt wird bekämpft…und wenn er Hundertmal RECHT hat!
    Reiche können ihre Vasallen bezahlen, der Rechtschaffende hat nur die Wahrheit auf seiner Seite.

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