Rede (1) von Martin Zeis bei der Occupy-Aktion am 15.10.2011 auf dem Stuttgarter Börsenplatz
„Liebe Leute,
ich will meinen Beitrag mit einem historischen Einstieg beginnen.
Heute vor knapp 14 Jahren, am 12. Dezember 1997, veröffentlichte Ignacio Ramonet anlässlich der Südostasienkrise in der französischen Tageszeitung Le Monde einen Aufruf an die Welt unter dem Titel:
„Entwaffnet die (Finanz)-Märkte!“ („Désarmez les marchés!“)
Dort schrieb er unter anderem:
... Will man verhindern, dass die Welt sich im 21. Jahrhundert endgültig in einen Dschungel verwandelt, in welchem die Räuber den Ton angeben, wird die Entwaffnung der Finanzmächte zur ersten Bürgerpflicht.
... Es wird höchste Zeit, diesen zerstörerischen Kapitalbewegungen Sand ins Getriebe zu streuen. Das ist auf dreierlei Weise möglich:
- über die Abschaffung der Steuerparadiese
- über die höhere Besteuerung von Kapitaleinkünften und
- über eine allgemeine Besteuerung der Finanztransaktionen
und weiter:
Alle Großbanken der Welt haben Filialen in Steuerparadiesen und ziehen aus ihnen große Profite. Ließe sich nicht ein Finanzboykott von Gibraltar, der Kaimaninseln oder Liechtensteins durchsetzen, indem man Banken, die mit öffentlichen Stellen zusammenarbeiten, untersagt, dort Filialen zu eröffnen?
Die Besteuerung der Finanzeinkünfte ist eine demokratische Minimalforderung. Diese Einkünfte sollten genauso hoch besteuert werden wie die Einkünfte aus Lohnarbeit, was freilich nirgends der Fall ist, schon gar nicht in der Europäischen Union. ...
Bei einem Satz von 0,1 Prozent würde die Tobin-Steuer jährliche Einkünfte von rund 166 Milliarden Dollar einbringen - das Doppelte der jährlich benötigten Summe, um die extreme Armut bis zur Jahrtausendwende abzuschaffen. ...“
Ramonet erhielt auf seinen Aufruf über 5.000 Zuschriften, die ihn und seine Mitstreiter(inne)n ermutigten, ein halbes Jahr später eine weltweite, regierungsunabhängige Organisation namens „Action pour une taxe Tobin d’aide aux citoyens“ (ATTAC) ins Leben zu rufen.
Wir wissen heute, dass sich die in den folgenden Jahren bildenden großen, internationalen sozialen Bewegungen – das Weltsozialforum, die europäischen Sozialforen, das attac-Netzwerk – um nur einige zu nennen – nicht vermochten, effektiv Sand ins Getriebe der Finanzmärkte zu streuen.
Vielmehr hat sich 14 Jahre später die Welt – gerade auch die des Westens – in den von Ramonet angesprochenen Dschungel verwandelt, in dem die Räuber den Ton angeben, indem die global agierenden Casino-Großbanken die Politik am Nasenring führen (BuPrä Wulff) und das Monster – so Wulff-Vorgänger Horst Köhler in seiner letzten Rede – im Zusammenspiel mit der Politik die Welt nun an den zweiten, wahrscheinlich finalen Finanzsystem-Zusammenbruch herangeführt hat.
Wir stehen hier in unmittelbarer Nähe zweier Tentakeln des von Köhler angesprochenen Monsters, der Stuttgarter Börse und in der Nachbarschaft der Filiale der Deutschen Bank.
Wer ist eigentlich dieses Monster? Wo haust es? Was treibt es?
Das sind die ca. 200.000 guys (es sind vor allem Männer) in der Altersregion 25 bis 40 Jahre, welche vor den Bildschirmen in den Investmentabteilungen der Großbanken sitzen, just in time mit allen großen Börsen der Welt verbunden sind, und mithilfe ausgefuchster Tradingprogramme versuchen, als Erster von Auf‑/Abwertungstrends, geringen Wertschwankungen – z.B. von Währungen – zu profitieren, was sich letztlich in der Höhe ihres Bonus und desjenigen ihrer Vorgesetzten und der Vorstände niederschlägt. Diese gegenüber den Folgen ihres Tuns völlig unempfindlichen Trader schieben auf diese Weise täglich Währungen in der Größenordnung von 4,5 Billionen US-Dollar hin und her – ein volkswirtschaftlich nutzloses und bei Ab-/Aufwertungs-Attacken auf Opferwährungen zerstörerisches und ganze Länder schwer schädigendes Spekulationstreiben. Für den Welthandel wird nur ein Bruchteil des o.a. Volumens, etwa 60 – 80 Mrd. US-Dollar, als Transaktionsmittel gebraucht.
Dabei muss man wissen, dass inzwischen ca. 70 Prozent des Börsenhandels vollautomatisch über sogenannte High-Frequency-Programme ablaufen. Fast science-fiction-like jagen diese Programme ihre Kauf-/Verkaufsaufträge – und zwar im Nanosekunden-Takt (nano = ein Millionstel) – in die speziellen Datenleitungen der Weltbörsen und, was viele nicht wissen, in den OTC-Markt (over the Counter = außerbörslich), in dem fast 80 Prozent der spekulativen Wettaktionen stattfinden; fernab jeder staatlichen Aufsicht, fernab jeder offiziellen Bilanzspur, fernab jedes realwirtschaftlich sinnhaften Bezugs.
Ein jüngeres Beispiel ist hier die folgenreiche Aktion einer weiteren Tentakel, der deutsch-französischen Dexia-Bank, die sich mit Wetten auf steigende Zinsen für deutsche, zehnjährige Staatsanleihen verspekulierte – bei einer Verlustgröße von 46 Milliarden Euro war dann Schluss. Wegen der sogenannten Systemrelevanz wurde diese Großbank vom französischen und belgischen Staat übernommen und mit Garantien in Höhe von 200 Milliarden Euro – auf Risiko der Allgemeinheit – ausgestattet.
Dieses üble Spiel wiederholt sich seit dem Bankrott von Bear Stearns 2007, der Lehman-Pleite 2008 und der Verstaatlichung der HRE – welche die deutschen Staatsschulden um über 100 Milliarden nach oben katapultierte. Auch die Auslagerung der zig-Milliarden-Schrott-Papiere der West-LB in eine staatlich garantierte Bad-Bank gehört in diese Form der Zockschuldenübernahme durch die öffentliche Hand.
15 Billionen USD haben die Regierungen des Westens seit 2007 in die schwarzen Löcher der Casino-Großbanken als Kapitalhilfe und Garantien geschossen. Und was machten diese damit? Sie spielten weiter.
Ein Beispiel:
Die EZB lieh den europäischen Großbanken im Juni, September und Dezember 2009 den Betrag von 614 Mrd. Euro zu einem Zinssatz von einem Prozent. Die Banken nutzten mehr als die Hälfte dieser Geldmittel, 442 Mrd. Euro, um sie in höhere Erträge abwerfende Anlagen zu investieren. Viele Banken kauften sich von dem mit 1 Prozent verzinsten EZB-Geld damals immer noch liquide aber höhere Preise erzielende Staatsanleihen (griechische, australische, ...) und steckten die Differenzmilliarden in die eigene Tasche.
Insgesamt halten die europäischen Banken heute Schuldtitel der sog. Peripherieländer Europas, inklusive Italien und Spanien, von über 700 Mrd. Euro in ihren Bilanzen. Nachdem sie längere Zeit die hohen Zinsen ansaugten, fallen ihnen die Papiere inzwischen aber wegen der Herabstufung (Downgrading) der Bonität der Länder auf die Füße.
Die nach wie vor den Weltmarkt dominierenden US-Ratingagenturen Standard&Poors, Moodys und Fitch haben hier ganze Arbeit geleistet. Während diese Agenturen den völlig überschuldeten USA (16 Milliarden USD offiziell, inklusive der Liabilities (Verbindlichkeiten bei MediCare ... 70 Billionen USD) weiter Höchstbonität bescheinigen – ebenso wie dem US-Klon Großbritannien, trieben sie koordiniert kleinere Länder im Euro-Bereich, von Griechenland ausgehend, in den Ramschstatus, was jeweils Verkaufswellen dieser Staatsanleihen auslöste, die Zinsen – an denen bis zum Kollpas verdient wird – in astronomische Höhen trieb – mit den bekannten Folgen.
An dieser Stelle muss ich eine Bemerkung einschieben. Die seit 2008 öffentlich in Erscheinung getretene systemische Finanzkrise ist unterlegt von einem Währungskrieg US-Dollar versus Euro, bei dem es darum geht, welche der beiden Weltwährungen zuerst in die Knie geht und ob der US-Dollar – den Euro überlebend – noch eine Weile seine privilegierte Rolle als Weltleitwährung spielen kann.
Lassen Sie mich in diesem Kontext noch einige Worte zu den tieferliegenden Gründen für die überbordende Staatsschuldenkrise verlieren:
Im Zuge der seit den 90ern durch die Parlamente des Westens beschlossenen Deregulierung der Finanzmärkte war es den global agierenden Industrie- und Finanzkonzernen und den Reichen möglich, sich der jeweils nationalen Besteuerung in großem Maße zu entziehen. Parallel dazu gab es enorme Steuersenkungen für die Reichen. Beides begann unter CDU/FDP-Regierungen und wurde forciert unter Rot-Grün – alle etablierten Parteien haben auf diese Weise das Monster legalisiert und gefüttert, über dessen Attacken sie sich heute beklagen.
Die folgende Erosion der Steuereinnahmen bei gleichzeitig wachsenden öffentlichen Ausgaben (auch für den steigenden Schuldendienst) ist von den Staaten über die Schuldenaufnahme auf den Finanzmärkten ausgeglichen worden und führte zu einer vollständigen Abhängigkeit von deren Goodwill, neue Schuldscheine zu kaufen und alte Schuldscheine zu refinanzieren (hier geht es um mehrere Billionen USD/€ pro Jahr).
Mit der durch die Parlamente seit 2008 mehrfach beschlossenen Übernahme der Zockschulden des Großbanken-Casino-Wetten-Systems in Billionenhöhe zu Lasten der Allgemeinheit erreicht die Staatsverschuldung inzwischen Höhen, die zum einen niemals abzahlbar sind und zum anderen den nun völlig überschuldeten Staaten des Westens nicht ein zweites Mal erlauben, das Finanzkrise-1.0-Bail-out-Spiel zu wiederholen, es sei denn – bei den bestehenden Spielregeln – auf Kosten des Ruins der Gesellschaften.
Allein die erste Runde der Bankenrettung belastete den hiesigen Steuerzahler netto mit rund 50 Mrd. Euro cash – und zwar ohne die offene und versteckte Erhöhung der Staatsschulden, ganz zu schweigen vom Fälligwerden der Garantien. Bei einem Staaten-Bailout stünde mindestens der zehnfache Betrag zur Debatte.
Was ist in dieser bedrohlichen Lage zu tun? Einige Vorschläge:
a) Rückholung des leistungslosen Vermögens, das im Zuge des bestehenden Zins-/Zinseszins-Systems, der langjährigen Lohnzurückhaltung sowie der Deregulierung und Privatisierung in den letzten 20 Jahren der Allgemeinheit entzogen worden ist, durch einen L a s t e n a u s g l e i c h – ein Verfahren, das in der jüngeren Geschichte, z.B. nach Weltkriegen oder schweren Katastrophen praktiziert wurde.
Zu einem solchen Lastenausgleich gehört eine scharfe progressive Einkommenssteuer (bis 80%) bei gleichzeitiger Entlastung der unteren und mittleren Lohneinkommen, der kleinen/mittleren Betriebe.
Wem die Zahl 80 Prozen hoch vorkommt, der sehe sich die Roosevelt-Ära und die Zeit danach in den USA an. Dort stieg der Spitzeneinkommensteuersatz von 63 Prozent (1. Amtszeit) auf 79 Prozent (2. Amtszeit) bis auf 91 Prozent Mitte der fünfziger Jahre an. Im gleichen Zeitraum stieg der Erbschaftsteuersatz von 20 Prozent auf 77 Prozent. Die Folge: Verfügten die reichsten 0,1 Prozent der US-Amerikaner 1929 über mehr als 20 Prozent der Vermögen des Landes, waren es Mitte der 50er noch etwa zehn Prozent.
b.) Scharfe Kontrolle/Regulierung der Finanzmärkte – Aufhebung der Kapitalverkehrsfreiheit. Um Kapitalabflüsse zu verhindern und Vermögenswerte zu sichern (allein aus Griechenland haben Reiche, Vermögende und Leute mit größeren Rücklagen im letzten Jahr über 200 Milliarden Euro außer Landes geschafft (= 60 Prozent der Staatsschulden) – und wohin? Nach London, in die Schweiz, in den Münchner Banken-/Immo-Markt und haben so die Kapitalbasis der griechischen Banken ruiniert.
c) Wiedereinführung des Trennbankensystems, d. h. den der Realwirtschaft dienenden Teil streng vom Invest-Casino-Bereich trennen, diesen unter Quarantäne setzen und koordiniert abwickeln. Das heißt, dass für die dortigen Verluste die Gläubiger (Kapitalgeber des Zockbereichs; Aktionäre der Großbank ...) geradezustehen haben.
d) Verbot aller Wett- und Spekulationsgeschäfte mit Währungen, Staatsanleihen, Unternehmensanleihen, Grundnahrungsmitteln, strategisch wichtigen Rohstoffen – eine Finanztransaktionssteuer greift hier zu kurz.
e) Auflösung der Steueroasen und Schließung des Schattenbankensystems.
Übergeordenete Schritte wären:
f) Schaffung einer neuen, internationalen Leit- und Reservewährung, welche die Funktion des US-Dollars, der am Kippen ist, ablöst -- Währungskorb, Bindung an zentrale Rohstoffe, feste Wechselkurse ...
g) Wahrscheinlich müsste in der jetzigen Lage die öffentliche Hand die Kontrolle über die Großbanken übernehmen, die zu wahrhaft „Schwarzen Löchern“ des Kapitals mutiert sind (in Verbindung mit Punkt c.). Die Form der Kontrolle müsste demokratisch gestaltet werden – hier kann man sich auch unabhängige, sachkundige Räte aus der Gesellschaft vorstellen.
Die Realwirtschaft benötigt zwar den Zahlungsverkehr und die Vermittlung zwischen Sparern und realwirtschaftlich investierenden Kunden bzw. Unternehmen. Dafür aber reichen Institute mit soliden Geschäftsmodellen wie Sparkassen, Genossenschaftsbanken aus ... – eine Deutsche Bank, eine Commerzbank oder die Landesbanken benötigen keine Volkswirtschaft.
Notwendig ist meiner Meinung nach eine breite Debatte über das Fiat-Money-System, das Kredit-Geldschöpfungssystem der Banken, d. h. die Erzeugung von Schuldengeld aus dem Nichts, das neben dem unlimitierten Gelddrucken der Zentralbanken fortlaufend Kreditblasen erzeugt, die an einem bestimmten Punkt kollabieren.
Parallel wäre – von UNTEN – der Aufbau eines alternativen, kooperativen, non-profit-orientierten genossenschaftlichen Versorgungsnetzwerkes in Angriff zu nehmen, das u. a. folgende Ziele verfolgt:
- die Versorgung der Bevölkerung gewährleisten;
- die eigenen Finanzmittel dem globalen Finanzmarkttreiben zu entziehen.
In ein solches Netzwerk gehören die Bereiche Banken, Wohnung, Landwirtschaft und Ernährung, Bildung, Gesundheitsversorgung, Energie.
Wie immer hängen solche Entwicklungen vom Bewusstsein der Leute ab – zwar sind beispielsweise in den letzten zwei Jahren Zehntausende zu ökologisch orientierten, nachhaltigen Banken gewechselt – insgesamt aber ist das ein noch recht geringer Teil.
Und für die Veränderungen, wie ich sie in den obigen Vorschlägen skizziert habe, gilt meines Erachtens nach immer noch das Diktum von Hannah Arendt: „Um grundlegendere Reformen eines verkrusteten, lange eingeschliffenen Systems zu erreichen, braucht es eine anhaltende, von vielen getragene „Revolte“.“
Ich danke Euch für Eure Aufmerksamkeit."
(1) Das vorliegende Manuskript weicht an einigen Stellen von der gehaltenen Rede – v.a. wegen Kürzungen – leicht ab.