Gebet für Stuttgart im Schlossgarten am 22. Sept. 2010

Ansprache von Pfarrer em. Karl Martell

Nach wohltuender Stille nun ein paar Gedanken, die mich umtreiben als Christenmenschen und als evangelischen Pfarrer im Ruhestand. Nicht nur mich, sondern eine Reihe von Menschen, mit denen ich in den letzten Monaten, Wochen und Tagen gesprochen habe.
Auf einem Plakat bei einer Demo las ich: We are the angry mob.Wir sind das ärgerliche Pack.
Ärgerlich – aufgebracht – wütend – jede und jeder mag „angry“ übersetzen, wie ihr/ihm zumute ist. Mein Eindruck: Der Protest entwickelt sich deutlich von ärgerlich hin zu wütend.
Warum?

Die Gründe sind zahlreich und die Motive der Vielen haben unterschiedliche Schwerpunkte. Einige will ich nennen.
Nicht als „verkehrspolitischer Experte“. Wie könnte ich auch eine Kompetenz beanspruchen, die die Bischöfe unserer beiden großen Kirchen für sich ausdrücklich in Abrede stellen?
Also: Jenseits verkehrspolitischen und juristischen Spezialistentums gibt es sehr wohl Gründe, Motive für den Unmut, den Zorn, die Wut. Man muss nur genauer hinschauen.
Wie wurden und werden diejenigen beurteilt, diffamiert, die nicht in die Lobeshymnen auf „Das neue Herz Europas“ einstimmen können?
Ja – wie es der eben zitierte Spruch einer Gegnerin ironisch aufgreift – als „Mob“. Als „Eventdemonstranten“ oder als „ewig Gestrige“, die nicht ganz bei Trost sind. Als Randalierer“, als „Freizeitpunks“ u.a.m.Am vorigen Mittwoch beklagten sich nach dem Gebet hier zwei ältere, gut-bürgerliche Damen: „Stellen Sie sich vor, uns wird nachgesagt, wir würden für
unseren Protest bezahlt.“
Der Autor Heinrich Steinfest, der in Stuttgart lebt und zur Zeit an einem Kriminalroman mit dem Thema „Stuttgart 21“ arbeitet, sagt dazu: „Die Stuttgarter definieren den Begriff der Demokratie neu. Es wird immer gesagt, Stuttgart 21 sei demokratisch legitimiert. Aber die Leute schauen sich genau an, wie dieser Legitimationsprozess erfolgt ist. Politiker haben aufgrund eines Fraktionszwangs einer Sache zugestimmt, über die sie nicht restlos informiert gewesen sind. Eine Lücke, welche die Protestierenden nun selber füllen.“
Und seine Einschätzung: „Ich habe noch nie eine Demonstration erlebt, wo die Leute so viel analysieren. Die haben tatsächlich Ahnung.“
Warum merken andere das nicht? Warum hören sie was anderes? Schwadronieren von „unreflektierter Agitation“, von „Schwarz-weiß-Schemata“ und „Halbwahrheiten“? So z.B. der Pfarrer der Stuttgarter Stiftskirche im Evangelischen Gemeindeblatt für Württemberg Nr. 37/2010. Schlagworte – im wahrsten Sinn! Man merkt die Absicht und man ist verstimmt.
Und gewiss nicht im Sinne der Presseerklärung der Bischöfe, in der sie betonen: „Wir nehmen in diesem Konflikt Partei für die Menschenwürde und für einen Umgang in der
inhaltlichen Auseinandersetzung, der dem sozialen Frieden dient.“
Befürworter des Großprojekts könnten an dieser Stelle einwenden: „Und was ist mit Lügenpack? Ist das etwa in Ordnung?“
Nein – ist es grundsätzlich auch nicht.
Aber ich erlaube mir, nach Ursache und Wirkung fragen.
Niemand – auch niemand im Kirchenamt – sollte auf der einen Seite mit der Goldwaage hantieren, auf der anderen aber in vornehm-zurückhaltender „Neutralität“ schweigen.
Wer absichtsvoll provoziert wird,

  • etwa durch die Verweigerung eines Baustopps,
  • etwa durch Abbrucharbeiten abends zwischen 18 und 19 Uhr während einer Montagsdemo,
  • etwa durch Gesprächsverweigerung (bisher zumindest),
  • etwa durch Drohungen und Einschüchterungsversuche,
  • um nur einige Beispiele zu nennen - wer so behandelt wird, dem platzt auch mal der Kragen.

Ich darf aus der Bibel zitieren: „Ihr verblendeten Führer, die ihr Mücken aussiebt, aber Kamele verschluckt! Weh euch, ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln außen reinigt, innen aber sind sie voller Raub und Gier! Von außen scheint ihr vor den Menschen fromm, aber innen seid ihr voller Heuchelei und Unrecht. Ihr Schlangen, ihr Otternbrut!“ (Mt.23, 24-33 i.A.)
Alles andere als eine wohltemperierte Rede. Vielmehr die Sprache des Machtlosen, der Zorn eines, der gegen die Arroganz der Macht aufbegehrt.
Dass bei den Sondierungsgesprächen, die jetzt - auf Vermittlung des katholischen Stadtdekans - doch in Gang zu kommen scheinen, ein moderater Ton vorherrschen möge,
versteht sich von selbst.

Ein Zweites: In nahezu jedem Interview, das von einem der Stuttgart21-Akteure gegeben wird, ist von Unumkehrbarkeit die Rede. Mir ist in menschlichen Verhältnissen nichts, aber auch gar nichts bekannt, das nicht umkehrbar wäre. Selbst vom Tod, dem scheinbar Unumkehrbaren, bekennen Christen: Seine Macht ist aufgehoben.
Umkehr ist eine der ganz grundlegenden Optionen menschlicher Existenz. Die Möglichkeit zur Umkehr gehört konstitutiv zu dem Menschenbild, das uns in christlicher Tradition überliefert ist. Umkehr hat mit Freiheit zu tun. Diese Freiheit zu bestreiten, ist anmaßend. Sie zu bestreiten, obwohl man um die Option der Umkehr weiß, zielt auf Resignation und Einschüchterung. Wenn die Kirchenleitungen von Menschenwürde sprechen: Warum erheben sie an dieser Stelle nicht vehement Widerspruch?
Redet uns nicht von Unumkehrbarkeit!
Beraubt die Bürger nicht der Freiheit, die sie haben!

Meinen dritten Punkt möchte ich überschreiben:
An ihrer Sprache sollt ihr sie erkennen!
Es wird ja immer wieder behauptet, der ganze Protest gegen das Projekt Stuttgart 21, das zutreffender „Babel 21“ heißen müsste, sei Folge eines Vermittlungsproblems. Die einzige Selbstkritik der Betreiber: Man habe versäumt, den Bürgerinnen und Bürgern die Vorzüge der schönen neuen Bahnhofswelt nahe zu bringen.
Ist da was dran?
Nein - es wurde ja auf vielfältige Weise geworben: Anfangs: „Paris – ein Vorort von Stuttgart“ Ironisch-schillernd zwar, hat aber nicht funktioniert.
Dann wurde „Unser schönstes Geschenk“ präsentiert und „Das neue Herz Europas“. (Und manche von der Elite des Fortschritts laufen jetzt tatsächlich mit so einem Herz-Button
herum - wie einfallsreich!) Und dann noch: „Das schaffen nur wir.“
Angesichts solch ebenso deplazierter wie großmundig-dämlichen Sprüche – warum kam da nicht deutlich die Reaktion: Einspruch!
Insbesondere von denen, die eine gepflegte, menschenwürdige Kommunikation anmahnen?
Und wenn OB Schuster in einem Offenen Brief – bereitwillig verbreitet von den örtlichen Presseorganen – beteuert: „Wir sind für Sie alle da“ und Bahnchef Grube tönt: „Wir wollen den Stuttgartern doch etwas Gutes tun.“
Jeder, der ein Gespür für Worte hat, hört die schiefen, falschen Töne.
Man muss sich gar nicht an einen erinnern, der 1989 in Verkennung der Situation so geredet hat – und ausgelacht wurde. Man muss nur aufmerksam hören. An ihrer großspurigen, verlogenen Sprache müsstet ihr sie erkennen!

Ein vierter und letzter Punkt – ganz kurz:
Wenn es an der Sprachsensibilität fehlt: Warum erkennen die Wächter der Menschenwürde nicht, mit welcher Art von Projekt wir es zu tun haben?
Größer – weiter – schneller – teurer ist die Devise.
Aber: Mehr und mehr Menschen, nicht nur die offen protestierenden, glauben dieser Heilslehre des grenzenlosen Fortschritts nicht mehr. Zumal wenn er so zerstörerisch
daherkommt. Sie haben gute Gründe aus schlechten Erfahrungen.
Der Geist eines solchen Projekts, der Geist des Größer-weiter-schneller-teurer ist als Ungeist erkannt worden. Lebensqualität wird heute von vielen an anderen Werten
gemessen. Dabei geht es nicht – zumindest nicht nur – um einen Stellvertreterkonflikt, wie der evangelische Stadtdekan meint. Der Widerstand gegen Stuttgart 21 kennzeichnet vielmehr am konkreten Fall – wo auch sonst? – die Abkehr von dieser Art Machbarkeits- und Größenwahn. – Wenn das kein Thema für die Kirchen ist!
Abkehr von den Tunnelbauten zu Babel, das ist alles andere als rückwärts gewandt. Wache und informierte, ideenreiche und verantwortungsbewusste Bürger – nicht der Mob –
machen sich frei von eingeredeten Ängsten, auch von der Angst, abgehängt zu werden.

Frei-werden von Ängsten, die manche haben mögen, die von anderen instrumentalisiert werden: Kein Thema für die Kirchen?
Oder merken sie wieder einmal nicht, dass sich mit dem Widerstand gegen das Babel-Projekt Menschen Gehör verschaffen, die umkehren?
Sie kehren um zu einer menschen- und umweltfreundlichen Lebensweise, in einer ebensolchen, in ihrer Stadt. Sie kehren um in die Zukunft.
Und nicht wenige von ihnen fragen: Seid ihr – Kirche – lediglich Hüter einer Gesprächskultur?
Oder „Salz der Erde und Licht der Welt“?

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7 Antworten zu Gebet für Stuttgart im Schlossgarten am 22. Sept. 2010

  1. Helmut Maier sagt:

    Wenn ich so eine Befreiungstheologie in m e i n e r Ortskirche gehört hätte, wäre ich der Kirche wahrscheinlich nicht so entfremdet. Gratuliere!

  2. Uwe Mannke sagt:

    Wenn sich eine Gesellschaft gespalten hat, wie ist dann das Gespräch wieder aufzunehmen? Wenn man in der sogenannten Sache Welten auseinander liegt und unterschiedliche Interessenlagen dies auch noch fördern, wo findet sich dann wieder die gemeinsame Ebene, wo Verständigung wieder möglich ist? Bei welcher Gelegenheit wurde man sich fremd und der Gesprächsfaden riß ab – in welcher Schulklasse ging das los oder erst später? Welche Leitbilder wurden verehrt, welche verworfen? Wo sind die gemeinsamen Leitbilder? Was kann die Gesellschaft wieder einen?

    Man muß es ausprobieren, aber man kann auch mit Befürwortern reden, nicht allen, wenn man erst einmal nach den Gemeinsamkeiten sucht – es gibt sie. Jedes Urteil über den anderen Menschen schneidet den Gesprächsfaden ab. Natürlich gibt es in einem solchem Gespräch keine Gerechtigkeit vom anderen, aber meinen Versuch, erst einmal dem anderen gerecht zu werden, ohne dass ich mich oder meine Position aufzugeben brauche. Geschmeidigkeit!

    Die Würde des Menschen ist unantastbar! Durch niemanden – ausser durch mich selbst. Bemühen wir uns, würdig aufzutreten, dem anderen entgegenzugehen um gemeinsam eine lebenswerte Stadt zu erreichen, die unterschiedlichen Wünschen gerecht wird.

    Was wollen wir von den Kirchen fordern, worauf sie nicht von alleine kommen? Welche Selbständigkeit im Denken haben wir schon erreicht, dass wir solcher Vorbeter und -denker nicht mehr bedürfen. Lasst uns das leben, was wir von den anderen erwarten! So bildet sich Kirche neu.

    Aus dem Credo der Christengemeinschaft:
    Gemeinschaften, deren Glieder den Christus in sich fühlen,
    dürfen sich vereinigt fühlen in einer Kirche, der alle angehören,
    die die heilbringende Macht des Christus empfinden.

  3. Reiner sagt:

    ..diese Gedanken sollte Herr Brock den Teilnehmern des heutigen Gesprächs schriftlich vorlegen, durchlesen lassen und 5 min darüber nachdenken lassen.

  4. Dorothea Geiges sagt:

    Lieber Herr Martell,

    danke für die kluge und weise Ansprache im Schlossgarten, die sicher vielen Menschen wie mir gut getan hat!

    Hoffentlich dürfen wir Sie bald wieder einmal hören…

    Danke allen, die diese Rede ins Netzt stellten!

  5. S.E. sagt:

    Großartige Rede! Hat mir beim Parkgebet am meisten gefallen! Im Gegensatz zu den meisten Politikern können Theologen nämlich reden. Hier werden endlich auch einmal moralische Aspekte besprochen. Danke fürs Ins-Netz-stellen! Herr Martell sollte auf größerer Plattform sprechen! Vielen Dank!

  6. Obuvnik sagt:

    Die Kirchenleitungen – evangelisch wie katholisch – wollen nicht pro oder contra Partei ergreifen (siehe Presseerklärung der Bischöfe vom 07.09.2010). Es gehe „nicht vornehmlich (!) um theologische Positionen“. In Ordnung.
    „Nicht vornehmlich“, heißt das jedoch nicht, dass die Kirchenleitungen durchaus theologische Aspekte sehen? Diese werden aber nicht benannt.
    Oder reicht nach ihrem Verständnis der sehr allgemeine Hinweis auf die Menschenwürde, die im Umgang zwischen Befürwortern und Gegnern nicht verletzt werden dürfe ?
    Gut, dass Pfarrer Martell auf theologische Implikationen hinweist, die in diesem Zusammenhang berührt sind:
    – die eindrückliche Erzählung vom Turmbau zu Babel (1.Mose 11);
    – die prophetische Tradition, die bis ins Neue Testament reicht;
    – Umkehr in ihrer zentralen Bedeutung für das christliche Menschenbild;
    – verlogenen Parolen, irreführende Werbung (8. Gebot u.v.a.m.);
    – Großmannssucht und Machbarkeitswahn.

    Zu diesen Themen müssten auch die Bischöfe theologisch Position beziehen.
    Jedoch: Das große Wort von der Menschenwürde übertönt nur ein dröhnendes Schweigen.
    Ethische Kompetenz ??

  7. Oswald, Dorothea sagt:

    Endlich eine überlegte Reflektion zu S21
    Werde den Text gerne weitergeben
    bin kirchlich engagiert und warte auf klare Worte der
    Kirchenleitungen.
    Kann den Gedanken von Pfr.i.R. Karl Martell
    voll zustimmen

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