Rede von Dr. Christoph Engelhardt, Faktencheck-Portal WikiReal.org., auf der 318. Montagsdemo am 18.4.2016
Deutschland und die Gleisneigung: Schwerkraft ist nur was für die Anderen
Liebe Mitstreiter!
Am 16. März gab es in Berlin die Anhörung zur Gleisneigung in Bahnhöfen: Soll Deutschland weiterhin das einzige Land der Welt bleiben, das hier keine Obergrenze setzt? – Wir wissen, bei uns gibt es lediglich einen „Soll“wert von 2,5 ‰ Gefälle. Stuttgart 21 wird über 15 ‰ Gefälle haben, also mehr als das Sechsfache. In praktisch allen anderen Ländern liegt die Obergrenze bei 2,5 ‰ oder darunter. Nur die europäische Vorschrift, die TSI, lässt eine Lücke – mutmaßlich für S21 –, wenn Züge nicht gekuppelt werden. Aber auch diese Lücke haben unsere europäischen Nachbarn geschlossen und die 2,5 ‰ effektiv als Obergrenze festgelegt, die übrigens auch bei uns von 1905 bis 1967 galt.
Es gibt aktuell kein Land außer unserem, in dem ein so steiler Großbahnhof wie Stuttgart 21 gebaut werden dürfte. Deutschland geht es wie dem Autofahrer, der im Radio hört, auf seiner Autobahn wäre ein Geisterfahrer unterwegs und der empört ausruft: „Ach was – von wegen einer – Hunderte!“
In Berlin steht die Beschlussempfehlung im Verkehrsausschuss noch aus, aber dort bringt die deutsche Geisterfahrerei niemanden zum Nachdenken. Das Nachdenken hat man sich im Jahr 11 nach Angela gründlich abgewöhnt. Wir erinnern uns, es war die Kanzlerin, die gesagt hatte, Deutschland wäre unregierbar, wenn Stuttgart 21 nicht komme. Wo kämen wir denn hin, wenn die Schwerkraft der Kanzlerin Grenzen setzen würde?
Es ist die Schwerkraft, die dem Schienenverkehr die Grenzen setzt. Der ist so ökologisch und so wirtschaftlich, weil Züge so geringe Reibung haben. Daher sind die Bremswege lang und die Strecken dürfen kein starkes Gefälle haben. Die S21-Bahnsteiggleise aber, die überschreiten sogar die Gefällegrenze für Hauptbahnen. Selbst auf der freien Strecke bräuchte man dafür eine Ausnahmegenehmigung!
Und es ist auch die Schwerkraft, die erbarmungslos zuschlägt, wenn ein Zug losrollt. Die Bahn sagt, die Züge sollen im Bahnhof gebremst werden, also sei es egal, wie steil der Bahnhof ist. Die Bremsen können aber defekt sein und sie werden auch mal vergessen. Allein in Köln Hbf sind seit 2010 auf den Gleisen mit nur 3,7 ‰ Gefälle mindestens 22 Züge weggerollt mit insgesamt 9 Verletzten – auch wegen defekter Bremsen. Zweimal rollte dort ein Zug eine ganze Waggonlänge weg. Und bei dem vierfachen Gefälle bei S21 wäre der Zug dann schon mindestens viermal so weit weggerollt. Aber schon nach zwei Waggonlängen kann er mit anderen Zügen zusammenstoßen, wenn es nicht etwa bei einer Doppelbelegung sofort kracht.
Die Experten der anderen Seite machten es sich leicht in der Anhörung. Es hieß, ein ebener Bahnhof wäre zwar „schöner“, aber absolute Sicherheit gäbe es ohnehin nicht, aber man solle doch abwägen zwischen Sicherheitsgewinn und Konzerngewinn. Toll, dann können wir uns die Sicherheitsgurte im Auto auch sparen, und die Airbags, die kosten auch nur unnötiges Geld!
Die Bahn sagte in der Anhörung – entgegen der Auskunft vom Kölner Betriebsbahnhof – dort seien Zugwenden schuld gewesen an den meisten Unfällen. Die Bahn kann das aber bis heute nicht belegen! Und darüber hinaus verweigerte Bahnvorstand Kefer die Vorlage der physikalischen Risikoanalysen der Bahn für die vermeintliche Sicherheit von geneigten Bahnsteigen! Ein Unding, die Parlamentarier dürfen die Belege für die Behauptungen der Bahn nicht sehen?
Nun – wir wissen schon, warum die Bahn sich nicht traut, diese Machwerke offenzulegen. Es sind erneut nur Milchmädchenrechnungen, dort werden Querneigung und rollhemmender Belag empfohlen. Und beides bringt nichts! Wir waren in Ingolstadt Nord, dort rollte der Kinderwagen trotzdem ins Gleis, obwohl der Bahnsteig die gleiche Sicherheit wie im ebenen Fall haben soll.
Wir lieben diese Milchmädchenrechnungen, wir sind jedes Mal wieder begeistert, wenn bei Stuttgart 21 eine neue aufgetischt wird:
- Wie letztes Jahr vom Gutachter Kirchberg zum 4. Bürgerbegehren, der mit einer Kapazität von 32 Zügen pro Stunde für den Tiefbahnhof keinen Rückbau erkennt, obwohl heute im Kopfbahnhof schon 38 und mehr Züge fahren. – Echt klasse! Ist denn 32 nicht weniger als 38?
- Oder, als die Wirtschaftsprüfer in der Schlichtung die S21-Kosten der Bahn bestätigten, in die die Chancen ganz und die Risiken gar nicht eingerechnet wurden. Das sei zwar maximal unwahrscheinlich, also maximal falsch, aber immerhin wären die Zahlen der Bahn dabei herausgekommen. – Echt super, dafür holt man sich die hochbezahlten Leute!
- Oder zur Aufsichtsratsentscheidung vom März 2013, als das Projekt wegen einem Vorteil von 77 Mio. weitergebaut wurde, obwohl die Wirtschaftsprüfer schon Mehrkosten in Milliardenhöhe aus Nachträgen identifiziert hatten! – Die Prüfer hatten also beide Augen zugedrückt! – Jetzt sollen die Kosten von Stuttgart 21 erneut, zum dritten Mal vom selben Wirtschaftsprüfer, von PricewaterhouseCoopers, geprüft werden. Wir dürfen schon gespannt sein auf die Milchmädchenrechnung, die diesmal dabei herauskommt!
- Milchmädchenrechnungen gibt es noch viele mehr: Seinerzeit hatte der damalige Verkehrsminister Ramsauer sinngemäß verkünden lassen, ob Stuttgart 21 zu klein für die geforderte Kapazität sei, könne man noch zur Inbetriebnahme prüfen.
Oder das hier: Letztes Jahr ließ das EBA ausrichten, ob der Brandschutz die geforderte Leistungsfähigkeit ausschließt, wird man zur Inbetriebnahme klären.
Jetzt wiederholt EBA-Präsident Hörster zur Gleisneigung bei S21 diesen Unfug: Ob wegen des Gefälles betriebliche Regelungen erforderlich sein werden, die die geforderte Leistungsfähigkeit unmöglich machen, wird man zur Inbetriebnahme prüfen! – Und auch den eigentlich schon zur Baugenehmigung nötigen, aber immer noch fehlenden Nachweis gleicher Sicherheit, um den kann man sich dann ja auch noch kümmern.
Hörster bestätigte auch, das EBA müsse sehr wohl die Machbarkeit von Stuttgart 21 prüfen. – Aber wer verlangt denn schon, dass Leistungsfähigkeit und Brandschutz und Gleisneigung gleichzeitig machbar sein müssen!? Es genügt doch, wenn wir uns auf dem Papier den Bahnhof für jeden Aspekt alleine schönrechnen!
Diese Gehirnakrobaten, meinen die das ernst? Unsere Steuermilliarden sollen erst einmal verbuddelt werden und dann prüfen wir, ob der Bahnhof überhaupt funktionieren kann? Der Flughafen Berlin BER lässt grüßen!
Liebe Bahn, liebe Politik gebt uns mehr davon. Ja – noch mehr von diesen Milchmädchenrechnungen! Ja – beleidigt unseren Intellekt, tretet die Logik mit Füßen, verspottet Adam Riese und vergesst das Land der Dichter und Denker. Erlaubt ist was gefällt und was die Taschen der Parteispender füllt. Hurra wir verblöden, für uns entscheidet der Staat!
Liebe Kanzlerin Merkel, lassen Sie uns Stuttgart 21 zu Ende bauen und die Zukunftsfähigkeit Deutschlands beweisen. Wir schaffen das! Wir können uns die dümmsten Entscheider leisten und Milliarden verbrennen für die Gesichtswahrung der Politik. Das ist zwar die denkbar teuerste Kosmetik, aber unser Land hält das aus! Wir haben es ja. Das ist echte Zukunftsfähigkeit! – Schwerkraft, das ist etwas für die Anderen!
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S21 verstößt gegen UN-Behindertenrechtskonvention
Thomas Poreski (Grüne): S21 verstößt gegen UN-Behindertenrechtskonvention
1. Stuttgart 21 verstößt nach Auffassung des sozialpolitischen Sprechers der Grünen im Landtag, Thomas Poreski, gegen die UN-Behindertenrechtskonvention und ist damit rechtswidrig. Auf die Forderung von Schlichter Dr. Heiner Geißler, S21 behindertengerecht und barrierefrei umzugestalten, sei seitens der Bahn bisher in keiner Weise reagiert worden. Dies liege vermutlich daran, dass dieses Ziel mit S21 nicht erreichbar sei. Denn jeder Bahnsteig habe mehrere 1,24 Meter schmale Engstellen, die für Menschen mit Behinderungen gefährlich seien. Es gebe bisher auch kein von der Feuerwehr abgenommenes Brandrettungskonzept. Im Moment, so Poreski, laufe es allen Ernstes darauf hinaus, dass im Katastrophenfall die Menschen mit Behinderungen die viel zu schmalen Treppen hinaufgetragen werden müssten. Das dies klappen könnte, sei in einer Paniksituation pure Illusion. Die Bahnsteige hätten zudem ein für behinderte Menschen unerträgliches Gefälle von sechs Metern, dem Sechsfachen des sonst Zulässigen. „Die UN-Behindertenrechtskonvention ist kein unverbindliches Gebot, sondern geltendes Menschenrecht, das sogar über dem nationalen Recht steht“, erklärte dazu Thomas Poreski. „Stuttgart 21 wäre das erste Großprojekt des 21. Jahrhunderts, das in eklatanter Weise gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstößt.“ Diese internationale Blamage könne nur mit einem klaren Ja zum Ausstieg abgewendet werden.
Hallo Herr Engelhardt,
bitte vor dem Vortrag etwas die Fakten prüfen. Die übliche Maximal-Steigung für Normalbahnen ist 30 Promille. Es geht aber mehr, sogar in Stuttgart. Als steilste Normalspur-Adhäsionsbahn Europas mit 85 ‰ gilt der Südast der Linie U15 der Stadtbahn Stuttgart.(Quelle Wickipedia).
Solche groben Fehler schaden ihrer Glaubwürdigkeit.
Hallo Hans,
bei dem Gefälle-Grenzwert für Bahnhöfe geht es nicht um die Grenze für Adhäsions-Bahnen. Es geht schlicht um die Gefahren für das Wegrollen von Zügen und Gefährten auf dem Bahnsteig. Wenn alle anderen Länder für Bahnhöfe eine Grenze von 2,5 Promille oder darunter setzen, dann sollten wir uns fragen, ob bei uns dieselben Naturgesetze gelten wie im Rest der Welt. Schauen Sie gerne auf die hier dargestellten Argumente: https://www.bundestag.de/blob/415528/ac4bfb488457c64e9a5f2dfc8efee86b/061_stellungnahme-engelhard-data.pdf
Wenn Sie den Gefällegrenzwert von 12,5 Promille für HAUPTBAHNEN meinen, so liegt S21 selbst über diesem Grenzwert für die freie Strecke. Hauptbahnen bis 25 Promille sind nur per Ausnahmegenehmigung möglich. Gruß, Christoph Engelhardt