Rede von Prof. Dr. Wolfgang Hesse, Ludwig-Maximilians-Universität München, auf der 297. Montagsdemo am 16.11.2015
Stuttgart wird abgehängt
Liebe Mit-Demonstranten, liebe Oben-Bleiber, liebe noch-nicht-ganz-abgehängte Freunde aus Stuttgart und der Welt,
heute sind wir zur 297. Montagsdemonstration zusammen gekommen – eine stolze Zahl – Zeichen für eine Ausdauer und einen Durchhaltewillen, zu dem ich Euch nur beglückwünschen kann. Aber – diese lange Zeit zeugt auch von dem langen Atem, der unbeirrbaren und schwer aufzuhaltenden Destruktivkraft der Stuttgart 21-Betreiber, die ihr zynisches Bahn-Rückbauprojekt zwar langsam, aber Schrittchen für Schrittchen immer weiter vorantreiben.
Worum geht es diesen Betreibern? Es geht ihnen darum, den öffentlichen Verkehr aus dem öffentlichen Bewusstsein abzudrängen, ihn möglichst verschwinden zu lassen, um Platz zu schaffen für mehr Autoverkehr, Konsumtempel und Glitzerfassaden. Und wie geht das besser, als einen Großstadt-Bahnhof in die Tiefe zu verbannen? Die Bahnhöfe von Barcelona-Sants und Bruxelles Central sind ebenso beredte wie abschreckende Beispiele dafür.
Es geht aber auch noch um mehr: Nämlich um den deutschen Weltmeister-Mythos: Wir sind die Größten und wir machen das Unmögliche möglich! War es nicht möglich, die WM 2006 für ein Sommermärchen nach Deutschland zu holen, obwohl die Abstimmung darüber eigentlich schon verloren war? War es nicht möglich, den supereffizienten Turbo-Diesel-Pkw zu bauen, der ganz wenig Sprit verbraucht, märchenhafte Abgas-Normen erfüllt (zumindest auf dem Prüfstand) und trotzdem nicht mehr kostet als andere Fahrzeuge seiner Größenklasse?
Schien es nicht möglich, in Hamburg eine Elbphilharmonie und in Berlin einen Großflughafen zu bauen, die vor vielen Jahren fertig sein sollten und ein Sechstel oder Siebtel von dem kosten sollten, was sie allein bis heute verschlungen haben? Angela Merkel hat Stuttgart 21 treffsicher in die Riege dieser Weltmeister-Projekte eingereiht, als sie sagte, sie wolle „mit dem Bahnprojekt Stuttgart 21 Deutschlands Zukunft gestalten“.
Was tut man aber, wenn man sich einmal auf solche Utopia-Projekte (sprich: technisch unmögliche oder ökonomisch undurchführbare Vorhaben) eingelassen hat? Nun das kennen wir: Da muss die Trickkiste geöffnet werden, da wird tolle Prüfstands-Software entwickelt, da fließen mysteriöse finanzielle Bakschisch-Transaktionen, da werden eben mal so Etats und Budgets erhöht, Stresstests manipuliert, „Schlichtungen“ mit vorher feststehendem Ausgang inszeniert (und die im Schlichterspruch eingestreuten Kompromiss-Bonbönchen dann danach auch noch stillschweigend kassiert), da wird die Bevölkerung mit Fehlinformationen eingelullt und lässt sich – leider! – am Ende treuherzig zu unbedachten und folgenschweren Stimmabgaben verführen.
Aber das hilft alles nichts: Auch in Stuttgart gibt es kein Utopia-Wunder, lassen sich die Fakten nicht mit Verschleierung, Ruhigstellen der Presse und gebetsmühlenartiger Berufung auf fragwürdige Volksabstimmungen wegwischen.
- Fakt ist, dass (falls wirklich dereinst der Tiefbahnhof den Kopfbahnhof ersetzen sollte) Stuttgarts Bahn-Zukunft eine sehr abgespeckte, für die Bahnreisenden mühevolle, unbequeme, zeitraubende und dazu gefährliche sein wird.
- Fakten sind die unzulässige Bahnhofs-Schräglage, unzureichender Brandschutz, geologische und Grundwasser-Probleme, fehlende Kapazitäten, chaotische Filderbahnhofs-Planung usw. – alles Probleme und alle für sich allein genommen k.o.-Kriterien, die hier schon viele Male thematisiert wurden,
- Fakt ist, dass ebenerdiges und bequemes Ein-, Aus- und Umsteigen am Stuttgarter Hauptbahnhof nicht mehr möglich sein wird, man sich auf Rolltreppen quetschen und endlos auf Fahrstühle wird warten müssen und sich auch nicht mehr entspannt in einen lange vorher bereitstehenden Vorortzug wird setzen können,
- Fakt ist, dass in Stuttgart dann vielleicht mal ein TGV aus Paris halten wird – wie heute auch schon (dann aber hoffentlich wegen der Schräglage gut gebremst!) und vielleicht sogar nach Bratislava weiterfahren wird (obwohl da keiner hin will) – Fakt ist aber auch, dass er kaum noch attraktive Anschlüsse in die Region haben wird.
Damit sind wir bei unserem heutigen Spezialthema: Stuttgart im integralen Taktfahrplan (kurz: ITF). Früher gab es mal wirklich schöne Träume (auch ich hatte die!), Baden-Württemberg zu einem Bahnland wie der Schweiz auszubauen – es liegt ja schließlich gleich nebenan und man bräuchte eigentlich nur den Schweizer Fahrplan, nach dem dort Schul- und Arbeitszeiten, Verabredungen und das halbe Geschäftsleben ticken und der uns Bahnkunden in ganz Europa als Vorbild vorschwebt, auf Baden-Württemberg auszudehnen.
Einen solchen Fahrplan habe ich schon 2007 hier in Stuttgart auf einer Pressekonferenz vorgestellt. Stuttgart als Vollknoten d.h. die Fern- und Nahzüge aus der Region kommen fast gleichzeitig an und fahren dann nach angemessener Umsteigezeit wieder in alle Richtungen ab – das ginge und wäre mit einem überschaubaren Gleisbauwerk bei Mannheim zu realisieren – wir hätten es schon vor 20, 30 Jahren haben können und das für weniger als 1 % der Baukosten von Stuttgart 21!
Aber da sind die Planer vom Stuttgarter Tiefbahnhof vor. Denn für einen funktionierenden ITF braucht man viele Gleise, damit die Züge auch gleichzeitig ein- und ausfahren können. In Stuttgart sind das genau 14. Ja – aber die haben wir doch im bestehenden Kopfbahnhof schon – und noch 2 dazu für Reserve, Notfälle, Bauarbeiten etc.?? Macht nichts – sagen da unsere Tiefbahnhofs-Planungs-Weltmeister: Wir fahren auch auf 8 Gleisen im Keller einen ITF. Wie der dann aussieht, haben die Bahn-Planer bei der Stuttgarter Schlichtung mit ihrem Fahrplan vorgeführt:
Da fahren die Züge munter hintereinander her – so wie sie gerade mit Mühe und Not und 2-minütigem Halten durch die Röhre passen. Längere Halte gehen nicht, denn sie würden den ganzen Weltmeister-Stresstest-Fahrplan als Makulatur entlarven. Und Anschlüsse sind (wie bei der S-Bahn) reine Glückssache: Wenn mein Zug aus Backnang zwei Minuten nach der Abfahrt des IC nach Zürich ankommt (der leider nur alle 2 Stunden verkehrt), dann habe ich Pech gehabt und kann mich jetzt eine Stunde und 50 Minuten lang unter der neuen Leuchtkuppel im Tiefbahnhof dem Shoppen hingeben oder von Deutschlands Zukunft träumen.
2013 (d.h. 25 Jahre, nachdem das Schweizer Volk sich für das Projekt „Bahn 2000“ entschied) hat unsere Bundesregierung endlich den Deutschland-Takt in ihren Koalitionsvertrag als „Leitidee“ aufgenommen. Die Vorgänger-Regierung hatte eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, die seit Ende März 2015 vorliegt.
Darin gibt es zwei Nachrichten: eine gute für Deutschland, eine schlechte für Stuttgart, Ulm und damit für ganz Baden-Württemberg. Die gute Nachricht besagt, dass ein optimierter Fahrplan in Deutschland möglich wäre und erhebliche Fahrzeitverringerungen und einen deutlichen Nachfragezuwachs zur Folge hätte. Die schlechte Nachricht lautet: In der konkreten Fahrplanstudie im Anhang kommen weder Stuttgart noch Ulm als ITF-Knoten vor. Ja – wie das? Stuttgart, Industriezentrum und eines der wichtigsten Bahn-Drehkreuze in ganz Deutschland und Ulm, bedeutendes Regionalzentrum mit fünf Zulaufstrecken kommen beim wichtigsten Bahn-Integrationsplan überhaupt nicht vor? Hat da jemand geschlafen oder gar Aversionen gegen die süddeutschen Bahnzentren?
Nein – der Grund ist viel einfacher: Es geht einfach nicht: Mit der Mini-Gleiskapazität, die gerade einmal der von Provinz-Bahnhöfen wie Aschaffenburg oder Friedberg in Hessen entspricht, lässt sich kein Integraler Taktfahrplan fahren – daran kann auch der ausgefuchsteste Fahrplaner, können auch noch so getürkte Stresstests nichts ändern.
Selbst die bei der Schlichtung eingeforderten (und später im Orkus des Vergessens versenkten) 10 Gleise für den Tiefbahnhof würden da nicht helfen. Das alles war den Verfassern der neuen ITF-Studie natürlich klar. Da ihr Auftrag aber lautete, den Stuttgarter Tiefbahnhof und die Neubaustrecke nach Ulm als zukünftig gegeben vorauszusetzen, blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als die beiden Städte bei ihren Planungen einfach außen vor zu lassen.
So wird es dann wohl auch in der „Zukunft“ sein, die Angela Merkel und ihre unterirdischen Tunnel-Weltmeister namens Herrenknecht & Co. gerade „gestalten“: Fernzüge werden ganz taktlos irgendwann ankommen, wenn der enge Fahrplan eine Lücke lässt und werden in japanisch verkürzten Haltezeiten von 1-2 Minuten abgefertigt.
Anschuss gibt es immer dann, wenn zufällig mal ein Gleis frei ist. Und wenn der Bahnverkehr in Deutschland wirklich einmal zunehmen sollte (womit in unserem Auto-Weltmeisterland sowieso kaum noch jemand rechnet), dann fährt der TGV nach Bratislava eben über Frankfurt und die ICEs halten in Kornwestheim oder am Flughafen – was soll’s?
Und dann geht es ab auf die niegelnagelneue Hochgeschwindigkeitsstrecke nach Ulm. Auch da zeigen die Planer vom „Bahnprojekt Stuttgart-Ulm“ weltmeisterliches Format: Wo man in der Schweiz beim Gotthard-Tunnel für 12 Milliarden Franken den Scheitelpunkt der Strecke um 600 m tiefer legt, da investiert man im Weltmeister-Ländle 12 Milliarden Euro für einen Schild(a)-Vortrieb, um die Züge 300 Meter höher klettern zu lassen. Ein deutsches Zukunftsprojekt, über den sich noch ein weltweites homerisches Gelächter erheben wird.
Doch zurück zum bitteren Ernst: Noch liegt eine weite Wegstrecke vor uns, wenn wir den GAU (sprich: Größten Anzunehmenden Unfug) Stuttgart 21 stoppen wollen. Denn auf der anderen Seite walten gewaltige Kräfte: Immobilien-Haie, Tunnelbauer, Auto-Lobbyisten, Bahnzerstörer und sonstige Spekulanten, „da waltet …“ (um mit Goethe zu sprechen) „…die neoliberale Kraft, die stets das Gute will (oder wenigstens zu wollen vorgibt) und stets das Böse schafft.“
Lasst uns den neoliberalen Rattenfängern den Rücken kehren und von Utopia auf den Boden der Vernunft zurückkehren.
Lasst uns weiter Flagge zeigen wie damals in Mutlangen, Wackersdorf und beim Transrapid und lasst uns weiter für den Erhalt des Kopfbahnhofs kämpfen, für ein Zuschütten der Baugruben und eine Zukunft, in der Stuttgart vom Weltmeister im Autobau zum Champion des süddeutschen Bahnverkehrs wird.
Lasst uns für eine deutsche Verkehrswende kämpfen, bei der an die Stelle von Staus und Abgasen eine schon lange erprobte und bewährte Form der Elektro-Mobilität tritt: nämlich die einer kunden- und umweltfreundlichen Bahn, die endlich den ihr gebührenden Stellenwert bekommt.
Lasst uns das wahnwitzige Schildbürger-Projekt Stuttgart 21 endlich begraben und dafür sorgen, dass Stuttgart nicht weiter vom Bahnverkehr abgehängt sondern zum Leuchtturm für das Bahnland Baden-Württemberg wird. Das ist echte Zukunftsgestaltung, Frau Merkel!
Auf dass wir das gemeinsam erreichen, schließe ich mit Cato dem Älteren: „Ceterum censeo Stuttgart 21 esse terminandum“ und rufe Euch allen zu: OBEN BLEIBEN!
Ein alternatives Großprojekt: BB 2025 (= Bürger-Bahn oder Bessere Bahn)
- bis 2025: Pro Person und Jahr 2.000 km Bahnfahrt (z. Zt. ca. 800)
- ICE/IC-Verkehr flächendeckend im Stunden-/ Halbstundentakt
- 20 neue Linien im mittleren Fernverkehr ( InterRegio) im Stundentakt
- 6.000 km Strecken-Reaktivierung, keine Stilllegung, d.h. 40.000 km Netz
- Max. 10 km zur nächsten Bahnstation, 60 Min. bis zum nächsten Zug
- Integraler Taktfahrplan deutschlandweit
- Einfaches, durchgängiges Tarifsystem
- Abo's: 3 Mio. BahnCard 100 (jetzt: 15.000), 20 Mio. BC 25/50 (jetzt 3 Mio.)
- 300.000 Bahn-Mitarbeiter
- Investitionsprogramm BB 2025 (ca. 15-20 Mrd. €) – finanziert aus Verkäufen, Einsparungen und ggf. Bürgeranleihen