1972 durfte ich zum ersten Mal wählen, da war ich achtzehn geworden und ohne weitere Qualifikation zum wahlberechtigten Staatsbürger aufgestiegen. Am 19. November fand die Bundestagswahl statt, und als Neuwähler lernte ich rasch die wichtigen Dinge über das politische Geschäft. Die CDU hatte versucht, per Misstrauensvotum Willy Brandt zu stürzen, nachdem einige Genossen dem SPD-Kanzler die Gefolgschaft verweigert hatten. Sein Konkurrent Rainer Barzel wurde dennoch nicht Regierungschef, weil ihm zwei Stimmen fehlten. Später kam heraus, dass Korruption die Wahl entschieden hatte. Als Ersttäter an der Urne wurde ich somit gut und lebensnah in den politischen Alltag und die demokratische Zukunft eingeführt.
1972 war eine merkwürdige Zeit. Die Studentenrevolte war vorbei, die Beatles hatten sich aufgelöst, und Jimi Hendrix war tot. Schon damals diskutierten wir heftig das „kleinere Übel“.
Unter dem kleineren Übel stellte ich mir eine Partei vor, die weniger korrupt war als die andere. Ich war sogar überzeugt, dass es eine Partei gab, die weniger korrupt war als die andere. Bald wurden wir eines Besseren belehrt, doch die Diskussion über das kleinere Übel ging weiter. Dabei ist diese Debatte heute so unlogisch wie damals. Rein sprachlich gaukelt einem das „kleinere“ Übel vor, es gäbe nur ein kleines und ein kleineres Übel, also kein großes Elend.
Es ist schwer, konsequent zu sein, wenn man die Wahl hat zwischen den Übeln. Leichter ist es, nicht korrupt zu sein – die demokratische Mehrheit der Wähler ist ja nicht so wichtig, um für eine ordentliche Bestechung in Frage zu kommen.
Der Umgang mit dem Übel beschäftigt mich seit vierzig Jahren. Das Wort Übel, mit einem Umlaut und einem hellen Vokal in nur zwei Silben, klingt ausgesprochen melodiös. Man kann es fast unverändert als Hauptwort und als Eigenschaftswort verwenden: Es ist ein Übel, wenn dir übel ist.
Wikipedia bietet eine schöne Definition des Wortes Übel: „Das Übel ist in der Philosophie ein Begriff, der alles bezeichnet, was dem Guten entgegengesetzt ist. Es ist vom Bösen zu unterscheiden, mit dem es häufig verwechselt wird. Übel ist der allgemeinere Begriff, der das Böse umfasst. Alles Böse gehört zum Übel, aber nicht jedes Übel gehört zum Bösen.“ Ich erschrak, als ich diese Zeilen gelesen hatte. „Alles Böse gehört zum Übel.“ Vermutlich gilt diese böse Erkenntnis auch für das kleinere Übel. Der Volksmund hat dem Adjektiv übel im Lauf der Zeit das große Böse etwas genommen. Man sagt: „Nicht übel.“ Oder: „Der Kerl ist gar nicht so übel.“ Das bedeutet: Da ist etwas fast in Ordnung.
Die Jugendsprache, eine temporäre Kunst, hat vor einiger Zeit das Adjektiv übel ins Gegenteil verkehrt: Da war ein Film „übel lustig“, ein Typ „übelst cool“, ein anderer „übel übel“ (so wie später die Straßenbahn „voll voll“, wenn nicht „voll leer“).
Kein Mensch dagegen denkt positiv, wenn er das Substantiv Übel verwendet, keiner sagt: Diese Sache ist kein Übel. Man sagt dauernd: „Herr Müller ist das kleinere Übel.“ Diese Haltung ist typisch politisch, also eher voll übel. Denn keiner sagt wahrheitsgemäß: „Herr Maier ist das größere Übel.“ Immer geht es, die Situation verniedlichend, allein um das kleinere Übel. Das kleinere Übel, so scheint es, ist heute die wichtigste Errungenschaft der demokratischen Gesellschaft.
Träfe der Wikipedia-Satz zu, müsste doch uneingeschränkt gelten: Alles Böse gehört auch zum kleineren Übel (wenn auch nicht jedes kleinere Übel zum Bösen).
Unsereins fühlt sich außerstande, diese Problematik zu beurteilen. Das wäre etwas für einen konsequenten Philosophen wie Herrn Kretschmann. Der eröffnet freitags die Kampftrinker-Orgie auf dem Wasen und fordert samstags ein Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen.
Die meisten Menschen halten Wahlen für ein Übel. Sonst würden nicht so übel viele der Wahl fernbleiben. Vielleicht liegt es auch an den Locations. Unsereins muss zum OB-Wählen in die Hasenbergschule. Ich glaube nicht, dass mir im zweiten Wahlgang, wenn der Showdown läuft, der Geruch eines Klassenzimmers die Inspiration gibt, ein Übel vom anderen größenmäßig zu unterscheiden. Ich fände es erregender, in einer der zahlreichen sonntags geöffneten Bäckereien die Wahl zu bestreiten. Man könnte große und kleine Kübel aufstellen. In diese Kübel wirft der Wähler wahlweise eine Brezel oder ein Kürbiskernbrötchen. Auf diese Weise hätten auch unsere Analphabeten eine demokratische Chance, sich für das richtige Übel zu entscheiden.
Sinnvoll wäre am Ende, einem Vers aus meinem subversiven Tagebuch zu folgen: „Man darf’s den Menschen übel nehmen, wenn sie das Übel wählen. / Ob klein, ob groß, ist Jack’ wie Hos’.“
Ich wünsche Ihnen eine gute erste Wahl. Bleiben Sie gelassen. In zwei Wochen erst nimmt das Übel seinen Lauf.
Mehr unter: Joe Bauers Flaneursalon
#OB #Stuttgart #s21: Umfragen #StZ #StN seit 26.9. kommentarlos weg: Schweigen der Kartellmedien zu eigenen Online-Umfragen (9945 Stimmen): OBEN BLEIBEN mit #K21: #HANNES #Rockenbauch Kannes! pic.twitter.com/7gfCyONN
Spätestens beim zweiten Wahlgang sollte dann wirklich die Alternative gewählt werden:
http://mitmachen-ohne-mitzuspielen.de/
Man muss nicht immer an allem Übel beteiligt sein. Erich Kästner:
„An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern.“
Die gläserne Urne. Ich danke den Initatoren.
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Da hat unser Joe Bauer mal wieder in seiner tollen Art ( schrebe ) über das Übel „zugeschlagen “ … Einfach köstlicher Spaß zum Lesen , der nichts kostet . Ein herzliches danke – schön und weiter so …