„Jetzt erst recht“ – Analyse der Nacht und Ausblick

Die Diskussionen über "die Nacht und ihre Folgen" sind nicht verstummt. Jeder, der diese Nacht vom 14. auf 15. Februar mitgemacht hat, wird von immer noch rotierenden Erinnerungen verfolgt, wird davon sprechen, darüber diskutieren. Die letzten 10 Tage waren eine Zeit der Reflektion, in der jeder und jede einen Weg versucht hat, die Erlebnisse zu verarbeiten und die Trauer über den geschändeten Park und die zerstobenen Hoffnungen zuzulassen. Nicht wenige haben bereits die Ärmel hochgekrempelt, waren auf Sitzungen und mit Analysen befasst, schauen in die Zukunft. "Kritische Begleitung" wird von der Bewegung nicht als Lockruf eines Weichwasch-Schmusekurses verstanden, sondern als ein "Jetzt erst recht". Ursel Beck von der Cannstatter K21-Initiative hat im folgenden Artikel die Nacht im Park kritisch analysiert und S21 und den Widerstand in einen größeren politischen Zusammenhang gestellt.

Jetzt erst recht - Stadtzerstörung weiter bekämpfen!
Diskussionsbeitrag von Ursel Beck, Cannstatter Initiative für K21  
 
Bahn und Polizei haben sich den denkbar günstigsten Zeitpunkt für die Parkräumung ausgesucht. Die Stimmung in der breiten Bevölkerung ist noch geprägt vom Ausgang der Volksabstimmung. MP Kretschmann, Minister Hermann und andere wiederholen gebetsmühlenhaft, dass die Volksabstimmung eine demokratische Entscheidung gewesen sei, an die sich alle halten müssten. Dass die Volksabstimmung durch das Reißen des Kostendeckels, die Stresstestmanipulation, die Kannibalisierungseffekte für andere Schienenprojekte, nicht genehmigte und durchfinanzierte Planabschnitte und Planänderungen ad absurdum geführt wurde, wird unterschlagen. Aus Sicht der Bahn ist Geißlers Schlichterspruch nicht dazu da, umgesetzt zu werden. Das zeigt die Abholzung der Bäume. Geißlers Schlichtung hatte einzig und allein den Zweck, die weitere Eskalation  nach dem Schwarzen Donnerstag (30.9.2010) zu verhindern und den Widerstand zu beschwichtigen. Das Verwaltungsgericht begründete kürzlich seine Ablehnung des Eilantrags zur Umsetzung des Schlichtungsspruchs explizit damit, dass die Schlichtungsvereinbarung nicht rechtswirksam sei.

Parkbesetzung war ein starkes Zeichen
Trotz Volksabstimmung, trotz des Überlaufens von MP Kretschmann ins Lager der Projektbefürworter, trotz der Einschüchterungs- und Kriminalisierungsversuche der Polizei haben zeitweise bis zu 2000 Bürgerinnen und Bürger bei Kälte und Schneeregen den Mittleren Schlossgarten in der Nacht vom 14. auf 15. Februar besetzt. Das war ein starkes Zeichen von Widerstand und die größte Blockade seit dem 30.9.2010. Diese Stärke des Widerstands kann nur erhalten und mittel- und längerfristig weiter aufgebaut werden, wenn die Bewegung die bisherigen Erfahrungen ehrlich bilanziert, sich über Perspektiven Klarheit verschafft und mit dem nach wie vor großen Kern von Aktiven effektive Widerstandsaktionen organisiert. Dafür sind nach der Parkräumung ausführliche und ergebnisorientierte Diskussionen und demokratisch vernetzte Strukturen der Widerstandsgruppen notwendig.

 Stuttgart 21 scheitert nicht an seinen Widersprüchen
Stuttgart 21 wird nicht an seinen inneren Widersprüchen scheitern, auch wenn das einige Redner bei den Demos immer wieder glauben machen wollen. Wir können auch nicht darauf setzen, dass die Bahn keine Firmen findet für die Ausschreibungen. S 21 wird auch nicht an der Finanzierung scheitern. In Italien sehen wir, dass die Hochgeschwindigkeitsstrecke in Val di Susa weitergebaut werden soll, obwohl der Staat im Sozialbereich drakonische Kürzungen durchzieht. Wenn der Bau erst einmal begonnen hat, werden die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg erzählen, dass man jetzt die offene Baustelle nicht einfach liegen lassen könne. Es müsse jetzt fertig gebaut werden. Notfalls müssen eben doch mehr Steuergelder fließen. Das Geld wird dann durch Stellenstreichungen im öffentlichen Dienst, durch Schließung von Schwimmbädern, Krankenhäusern usw. aufgetrieben. Die S-21-Profiteure verteidigen mit allen Mitteln ihre Interessen. Stuttgart 21 ist für die wirtschaftlich und politisch Mächtigen ein Präzedenzfall für die Durchsetzbarkeit von Großprojekten.

Schlossgartenzerstörung ist eine Zäsur
Die Räumung und Zerstörung des Mittleren Schlossgartens ist eine Zäsur in der Auseinandersetzung um Stuttgart 21. Es ist die bislang größte Niederlage für uns. Nord- und Südflügel des Bahnhofs kann man wieder aufbauen. Die wunderschönen Parkbäume - wahrlich ein Natur- und Kulturschatz - sind unwiederbringlich verloren. Die Natur war dabei, sich auf den Frühling vorzubereiten. Unsere Frühlingsboten wurden geschreddert und niedergewalzt. Der Zeltgemeinschaft wurde der Boden entzogen. Einige Zeltbewohner werden in die Tristesse der Obdachlosigkeit der Großstadt zurückgestoßen. Die Stadt hat eine bleibende offene Wunde. Jetzt haben wir tatsächlich einen riesigen Schandfleck mitten in der Stadt. Fußgänger- und Radwege durch den Park sind abgeschnitten. Der Mittlere Schlossgarten als Platz zum Schlendern und Relaxen ist verloren. Jeder gefällte Baum bedeutet noch mehr Kohlenstoffdioxid und noch mehr Feinstaub. Die Hässlichkeit und Trostlosigkeit der Baustelle hat eine neue Dimension angenommen.
Es wäre falsch, jetzt die Segel zu streichen und den Widerstand herunterzufahren oder einzustellen. Wir haben immer noch eine Chance, das Austrocknen der anderen Parkbäume, das Grundwassermanagement, die Zerstörung unserer Mineralquellen und das ganze Projekt zu stoppen. Nutzen wir sie!
Fast 5000 Menschen sind am Samstag, den 18. Februar, unter dem Motto „Ihr macht alles kaputt - uns nicht“ auf die Straße gegangen. Das zeigt, dass Bahn und Landesregierung auch mit vereinten Kräften unseren Widerstand nicht brechen können.

Entscheidend sind nicht Gesetze, sondern das reale Kräfteverhältnis
Für die Räumung des Parks brauchte die Polizei einen 40köpfigen Einsatzstab ihrer angeblich besten Leute. Sie brauchte etliche Wochen, um den Einsatz zu organisieren und mehrere Tage Vorlauf, um 2400 Polizisten aus Baden-Württemberg und anderen Bundesländern zusammenzuziehen. Sie musste diesen Einsatz mitten in der Nacht durchführen, zu einer Zeit, in der niemand mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Stadt fahren konnte und kaum Verkehr auf den Straßen war.  
Der Versuch, die Platzbesetzer durch das von der Stadt verhängte Betretungs- und Aufenthaltsverbot zum Gehen zu bewegen, scheiterte. Niemand folgte dem ausgesprochenen kollektiven Platzverweis. Auch die Variante der Androhung von Strafen, wenn man nicht gehe bzw. der Erlass von Kosten, wenn man weggehe, lief ins Leere.  Die Polizei spricht in ihrer Presseerklärung davon, dass sich um 4.45 Uhr noch etwa 750 Personen im Park aufhielten. Und unglaublich, aber wahr: Obwohl den Park-Besetzern wiederholt gesagt wurde, sie müssten mit einer Anzeige rechnen, wenn sie nicht weggehen, gab es für Blockierer, die sich  wegführen ließen, noch nicht einmal eine Personalienfeststellung. Selbst bei einigen, die sich wegtragen ließen, wurden keine Personalien aufgenommen. Das erklärt die von der Polizei kommunizierte geringe Zahl von „Renitenten“, dass sich nämlich nur 79 Personen hätten wegtragen und 37 wegführen lassen. Selbst Platzbesetzern, die eine Personalienfeststellung ausdrücklich verlangten, wurde diese verweigert. Und das, obwohl einzelne Polizisten behaupteten, die Besetzer hätten sich der Nötigung strafbar gemacht. Folgt man der Logik der Polizei, dann war diese Nichtfeststellung der Personalien der Polizei Strafvereitelung im Amt.
Politisch betrachtet hat die lange Nacht im Park gezeigt: Es geht nicht um die Einhaltung von Gesetzen, sondern immer um das reale Kräfteverhältnis. Hätten die Polizisten Personalien aufnehmen wollen, hätten sie mehrere Stunden länger für die Platzräumung gebraucht. Auf die bereits 4500 nicht zu bewältigenden Verfahren gegen S21-Gegner hätte die Justiz noch einmal ein paar hundert Verfahren obendrauf bekommen. Zudem gab es auch nicht genug Platz für alle Besetzer in den Gewahrsams-Containern auf dem Cannstatter Wasen. Wer hätte gedacht,  dass die überwiegende Mehrheit der Platzbesetzer ohne Personalienfeststellung, ohne Platzverweis, ohne Anzeige und Bußgeld von der Polizei davongeschickt wird?  Der Grund: Wir waren so viele! Diese wichtige Erkenntnis aus der langen Nacht im Park müssen wir uns bewusst machen und sie nutzen für weitere Blockade- und Besetzungsaktionen.

Protestaktionen organisieren
Blockadeaktionen wurden im Zivilen Widerstand gegen Stuttgart 21 viel zu wenig diskutiert und sind bisher einem Kern von Aktivisten überlassen bzw. werden - wie am Südflügel oder im Park - nur ausnahmsweise als Mittel des Widerstands eingesetzt. Immer wieder wurde darauf gesetzt, das Projekt mit anderen Mitteln zu stoppen. Erst war es die Schlichtung, dann die Landtagswahl, dann der Stresstest, dann die Volksabstimmung.
Einer der entscheidendsten Tage im bisherigen Widerstand überhaupt war der 30.9.2010. Das Wichtigste an diesem Tag war, dass sich mehrere Tausend Menschen sehr mutig mit einer Massenblockade den anrückenden Polizeifahrzeugen und Baumfällmaschinen in den Weg stellten. Nur dieser Blockade haben wir es zu verdanken, dass die anderen Bäume im Schlossgarten überhaupt noch weitere 16 Monate stehen blieben. Wenn es diese machtvolle Blockade an diesem Tag nicht gegeben hätte, wäre die Geschichte ganz anders weiterverlaufen. Dessen müssen sich alle S21-Gegner bewusst sein. Wir sollten deshalb diskutieren, wie wir mit den mehreren Tausend Aktiven der Bewegung immer wieder effektive Baustellenblockaden organisieren können.  Dabei erscheint es sinnvoll, sich auf das Grundwassermanagement (GWM) zu konzentrieren. Es ist die zentrale Baustelle für die gesamte Baulogistik. Wenn wir das GWM verhindern, verhindern wir den Bau. Wir schützen unsere restlichen Parkbäume vor dem Austrocknen und wir schützen unser Mineralwasser.

Das Auf und Ab von Bewegungen
Keine Widerstandsbewegung nimmt einen geradlinigen Verlauf. Als in Wyhl im bitterkalten Februar 1975 der Bauplatz von der Polizei geräumt wurde, gab es eine große Demoralisierung im Widerstand. Viele hielten es für ausgeschlossen, dass das Projekt noch gestoppt werden könnte. Es kam zu einer Diskussion, in der ein Teil der Aktivisten für eine erneute Besetzung votierte, ein anderer Teil die Wirkung legaler Proteste und gerichtlicher Klagen favorisierte. Die radikaleren Teile setzten sich durch. Die Bürgerinitiativen beschlossen die Zurückeroberung des Bauplatzes und setzten es in die Tat um.  Eine zweite Platzräumung wurde vom Staatsapparat generalstabsmäßig vorbereitet, aber nicht umgesetzt. Kein Politiker war bereit, die Verantwortung für eine weitere gewaltsame Räumung zu übernehmen. Der Polizeihauptkommissar, der den Einsatz leiten sollte, verweigerte den Einsatzbefehl. Ministerpräsident Filbinger zog aus der Platzbesetzung die korrekte Schlussfolgerung: „Wenn dieses Beispiel Schule macht, ist dieses Land nicht mehr regierbar.“ Ohne eine erneute Platzbesetzung wäre das AK Wyhl gebaut worden. Darüber waren sich später alle Akteure des Widerstands einig. Die Wyhler waren ein kleines „gallisches“ Dorf. Sie hatten keine Mehrheit im Land hinter sich. Hätte es 1975 eine Volksabstimmung gegeben zum Bau von AKWs, sie wäre gegen den Widerstand in Wyhl ausgegangen. Bis zur Reaktor-Katastrophe in Tschernobyl 1986 gab es bei allen Meinungsumfragen eine satte Mehrheit für Atomenergie. Diese Mehrheit glaubte MP Filbingers Aussage: „Wenn Wyhl nicht gebaut wird, werden Ende des Jahrzehnts in Baden-Württemberg die ersten Lichter ausgehen.“
In Wackersdorf wurde 1986  eine riesige Schneise in den   Taxöldener Forsts geschlagen und unzählige Bäume gefällt. Das Gelände wurde mit einem unüberwindbaren Mehrfach-Zaun abgeschirmt. Das war ein herber Rückschlag für den Widerstand. Trotzdem ging der Widerstand weiter und bekam durch den GAU in Tschernobyl mächtigen Aufwind. 1989 wurde der Bau eingestellt.

Vernetzung mit anderen Bewegungen
So wie Wyhl der Ausgangspunkt für eine erfolgreiche Anti-AKW-Bewegung war, kann der Widerstand gegen S21 der Ausgangspunkt für bundesweiten Widerstand gegen andere Großprojekte werden. Bereits jetzt bezieht sich der Widerstand gegen die dritte Landebahn in München, gegen den Fluglärm in Frankfurt sowie der vieler anderer Bewegungen auf den Stuttgarter S21-Widerstand und fühlt sich von ihm ermutigt. Es war gut, dass bei der 111. Montagsdemo eine Liveschaltung mit der Montagsdemo gegen Fluglärm im Frankfurter Flughafen gesendet wurde. Eine Vernetzung des bundesweiten und internationalen Widerstands gegen ähnliche Großprojekte, ein gegenseitiger Erfahrungsaustausch, die gegenseitige Unterstützung und gemeinsame nationale und internationale Aktionstage sollten angestrebt werden. Ebenso eine Vernetzung mit der Occupy-Bewegung und dem Widerstand gegen ACTA. Am 11. März ruft „endlich abschalten“ anlässlich des Jahrestages des Reaktor-Unglücks von Fukushima zu einer Demonstration nach Neckarwestheim auf. Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass das Aktionsbündnis, die Parkschützer und alle Gruppen im Widerstand diese Demo unterstützen, mit dazu aufrufen und mobilisieren. Ein Schwachpunkt der Bewegung bisher war, dass der Zusammenhang von Stuttgart 21 mit den realen Problemen der Mehrheit der Bevölkerung nicht hergestellt wurde. Das wurde auch zum Nachteil bei der Volksabstimmung. Viele Leute glaubten, es gehe tatsächlich „nur um einen Bahnhof“. Es muss aufgezeigt werden, dass der Verkauf der LBBW-Wohnungen an den Investor Patrizia, die Unterfinanzierung der Krankenhäuser, fehlende Kitaplätze, die Energiepolitik, der Bau des Rosensteintunnels und Stuttgart 21 eine große Gemeinsamkeit haben. Es sind die gleichen Profitinteressen und die gleichen Interessengruppen, die hinter allem stehen. Das sollte auch bei Montagsdemos und in unseren Materialien zum Ausdruck kommen.

Weiter Montagsdemos
Nach der Zerstörung des Mittleren Schlossgartens ist es noch wichtiger, dass die aktiven  Kräfte des Widerstands zusammenbleiben. Selbst wenn die Montagsdemos aufgrund von Demoralisierung an Beteiligung verlieren, ist es enorm wichtig, sie aufrecht zu erhalten. Sie bilden immer noch das Rückgrat der Bewegung. Sie sind wöchentlicher Treffpunkt, ein Ort des Austausches, des Krafttankens, der Selbstvergewisserung und  politischer Wochenmarkt. Es geht also hauptsächlich um die Innenwirkung der Montagsdemos. Das heißt nicht, dass wir auf Außenwirkung verzichten. Auch dabei können die Demos weiter eine wichtige Rolle spielen. Wir müssen auch weiter mit Flyern, Infoständen und Veranstaltungen den Kampf um die Köpfe fortsetzen und den Dialog mit der breiten Bevölkerung suchen. Wir müssen uns aber im Klaren darüber sein, dass wir vorerst in der breiten Masse eher auf Gleichgültigkeit oder Gegenwind stoßen. Wenn allerdings die negativen Auswirkungen der Baustelle noch deutlicher spürbar werden, wenn der wirtschaftliche Niedergang in Europa die Region Stuttgart erreicht, kann sich das schnell ändern und Demos könnten wieder Zehntausende auf die Straße bringen. 

Neuer Ratschlag  nötig
Es ist gut, dass in den nächsten Wochen ein neuer Ratschlag oder eine Aktionskonferenz einberufen wird. Hier sollten die Lage nach der Zerstörung des Schlossgartens und die Konsequenzen für den Widerstand diskutiert und Schlussfolgerungen gezogen werden. Auch die Beteiligung an der OB-Wahl könnte hier diskutiert werden. Es sollte allerdings gewährleistet sein, dass Strukturen geschaffen werden, die eine Umsetzung von Beschlüssen garantieren. Dazu könnten in den verschiedenen Gruppen des Widerstands vorbereitende Diskussionen für den Ratschlag stattfinden. 
                                         Ursel Beck

 
 

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